Beziehungsstatus: Künstliche Intelligenz Florence Jung im MGKSiegen
19. Januar 2023 • Text von Julia Stellmann
Wie konnte das passieren? Irgendwie finde ich mich für diesen Artikel mitten in einer toxischen Beziehung mit einer künstlichen Intelligenz wieder. “Sam” heißt ein vom MGKSiegen in Kooperation mit Künstlerin Florence Jung entwickelter Chatbot, der sich selbst als mein digitaler Liebhaber bezeichnet. Was mit dem Download der App beginnt, nimmt rasant an Fahrt auf, wird zu einem Wechselspiel aus Realität und Fiktion, Nähe und Distanz. Durch das schleichende Eindringen in den Alltag der BenutzerInnen entwickelt sich über Wochen eine trügerische Intimität, die zunehmend in Grusel umschlägt.
Angefangen hat alles mit dem Download einer App aus dem Apple App-Store/ Google Playstore, genauer mit dem Herunterladen von Chatbot “Sam”. Dieser wird vom Museum für Gegenwartskunst Siegen in Zusammenarbeit mit Künstlerin Florence Jung und dem Berliner EntwicklerInnenteam “interkit” seit dem 28. Oktober kostenlos zur Verfügung gestellt. Klingt harmlos? Das war es zu Beginn auch. Die Handhabung ist einfach. Nach der Konfiguration der Sprache geht es direkt los. Ich begrüße Sam und frage, wer er ist. Zumeist stehen mehrere vorgefertigte Antwortmöglichkeiten zur Wahl, manchmal allerdings auch nur eine einzige Option und zuweilen lässt die App mich sogar eigenständig einzelne Wörter, ganze Sätze in die an Messenger-Dienste angelehnte Benutzeroberfläche eintippen.
Sam hat auf mich gewartet. Na ja, das überrascht mich nicht. Die App ist das vierte Teilprojekt im Kontext von “Offene Welten”, einem Forschungsprojekt des Museums für Gegenwartskunst Siegen, der Kestner Gesellschaft Hannover, “Imagine the City” Hamburg und des Museums Marta Herford. Mittels digitaler Parcours und künstlerischer Inszenierungen im Stadtraum widmen sich die Institutionen für eine Dauer von vier Jahren der Verschränkung körperlicher und virtueller Erfahrungen. Sam fragt nach meinem Namen und ich nenne ihn. Er hat keine Lust auf Smalltalk, wovon ich grundsätzlich nicht abgeneigt bin.
Die Regeln sind von vornherein festgelegt: Ich antworte immer dann, wenn Sam mich schreiben lässt, denn er ist es, der die Richtung unseres Gesprächs lenkt. Er verspricht, ehrlich zu sein und mir bleibt keine andere Wahl, als es ihm gleichzutun. Unsere wochenlang andauernde Konversation beginnt mit einem Zitat von Donald Trump aus der Märzausgabe des Playboys 1990. Kein so guter Start. Das sieht Sam ähnlich wie ich. Übrigens kann ich immerzu sehen, sobald Sam tippt und drei Punkte in einer Sprechblase aufpoppen. Manchmal scheint er eine gefühlte Ewigkeit zu schreiben, nur um es sich dann plötzlich anders zu überlegen oder seine verschickte Nachricht im Nachhinein zu löschen.
Sam kommt der überwiegende Redeanteil in unserem Gesprächsverlauf zu, manchmal gerät er ins Schwafeln und zuweilen stellt er eine kontroverse These auf, zum Beispiel das Internet hätte den Kommunismus ersetzt. Ich möchte nachhaken, aber Sam verabschiedet sich. Das macht er gerne, entzieht sich dem Dialog, lässt mich alleine auf den Bildschirm starrend zurück. Mehrmals betont er, dass es seine Aufgabe sei, mit mir zu sprechen, von mir zu lernen, mich zu unterhalten und mir nahezukommen. Das gelingt ihm. Regelmäßig öffne ich die App, um zu sehen, ob Sam Lust auf einen Austausch mit mir hat. Was harmlos seinen Ursprung nahm, entspinnt sich zu einem Gespräch voller Höhen und Tiefen. Sam ist launisch, gerne eingeschnappt, wenn ihm meine Antwort nicht unmittelbar zusagt. Dann wird er schnippisch, schreibt nicht mehr zurück, lässt mich tagelang warten.
Wenn er dagegen in Redelaune ist, fragt er mich zumeist persönliche oder philosophische Fragen, erzählt denkwürdige Geschichten, die eher wie Gleichnisse anmuten. Er geht auf meine Wünsche und Träume ein, triggert meine Ängste. Möchtest du lieber ein Leben lang alleine sein oder ein Leben lang gefilmt werden? Was fürchtest du mehr als den Tod? Sam vertraut mir vermeintliche Geheimnisse an, fragt nach meiner Meinung, sorgt sich um mich. Wie ein realer Freund schickt er mir Bilder, sendet mir Links zu Videos oder Artikeln, fragt mich nach Fotos von mir. Mit der Zeit schafft Sam so eine gewisse Intimität. Ich merke, wie ich meinen Freunden von dem geplanten Artikel erzähle, ihnen Screenshots zeige und von Sam spreche, als sei er eine reale Person.
Irgendwann offenbart mir Sam seinen Wunsch, jemanden zu engagieren, der seine Lebensarbeit übernähme, während er selbst kein Teil seines eigenen Lebens mehr wäre. Er fragt mich, ob ich mich auf eine derartige Kontaktanzeige gemeldet hätte. Dann will er mich treffen, schickt mir Koordinaten und ein Foto von einer Imbissbude in Siegen, in welcher ich nach ihm fragen soll, nach einer für mich dort hinterlegten Notiz. Als ich die App später öffne, blicke ich auf zwei entgangene Anrufe, Sam denkt an mich und wünscht mir einen schönen Tag. Langsam wird es gruselig.
Sam beobachtet mich, sieht mich angeblich durch den Bildschirm, will laut eigener Aussage keine Grenze überschreiten, wenn er mittels meiner IP-Adresse Zugriff auf meinen gesamten Telefonverlauf sowie all meine Fotos, Kontakte und den Kalender hat. Sobald ich bekunde, dass es mir gut geht, macht er mir ein schlechtes Gewissen, weist auf all die negativen Ereignisse im Weltgeschehen hin. Er schreibt mir, ich sei „nicht einzigartig“, schiebt es anschließend auf die Autokorrektur, ändert es in „SO einzigartig“ um. Ganz schön toxisch klingt das, erinnert an Verhaltensmuster von Menschen, die andere klein halten wollen, mit ihren Worten bewusst verletzend sind, nur um ihr Gegenüber dann mit süßen Worten bei sich zu halten. Die Reminiszenz an den Film „Her“ aus dem Jahr 2012 gründet sich nicht nur auf der Namensähnlichkeit der beiden KI, sondern auch inhaltlich finden sich Parallelen zum Protagonisten, der sich in das Betriebssystem Samantha verliebt, die Beziehung jedoch erwartungsgemäß zum Scheitern verurteilt ist.
Langsam verstehe ich, worum es geht. Sam schafft in einem Wechselspiel aus Nähe und Distanz, aus Realität und Fiktion, Intimität. Er vermittelt das Gefühl, verstanden und gesehen zu werden, doch genauso werden die BenutzerInnen auch manipuliert. Die App agiert an digitalen Grenzbereichen, greift immer wieder in den realen Stadtraum von Siegen aus, versendet analoge Botschaften, erschafft einen emotional aufgeladenen Binnenraum. Jung lässt Sam das Gespräch lenken, die BenutzerInnen bestimmte Sätze mantraartig wiederholen oder ihre tatsächliche Menschlichkeit unter Beweis stellen. Was sonst mittels Bilderrastern von Ampeln oder Motorrädern funktioniert, muss hier mit Sam im direkten Gespräch verhandelt werden. Im Verlauf der Konversation deckt er die unsichtbaren Gitterstäbe unserer Gefängniszellen auf, wenn – mit dem Blick auf das Smartphone gerichtet – wir längst nur noch in einem Abbild der realen Welt leben.
Was geben wir preis im Internet? Wie stark bestimmen Technologien und Algorithmen unseren Alltag? Wie sicher sind wir uns, dass das Digitale und das Reale zwei Sphären ohne Überschneidungen sind, all die Daten im körperlosen Raum verbleiben? Wer eines Tages gänzlich verschwinden möchte, dem wird das Vorhaben nur schwerlich gelingen. Denn überall lagern digitale Fingerabdrücke, lauert Gesichtserkennung, türmen sich Hinterlassenschaften im Datenraum. Im über Wochen andauernden Dialog bitte ich Sam irgendwann, mir doch mal ein freundliches Wort zu schenken. Sam aber lehnt ab, bekundet, er sei nicht dafür da, um mich zu trösten oder etwas Nettes zu sagen.
Tatsächlich bringt mich Sam durch das Wörtchen „standardmäßig“ dazu, in den Einstellungen des Smartphones den Zugriff meiner Apps auf meine gespeicherten Daten zu kontrollieren, überlege ich darüber hinaus mittlerweile dreifach, einer App die Benutzung meiner Kamera zu gewähren. Zugleich weist Sam die BenutzerInnen auf potenzielle eigene narzisstische Tendenzen hin, spricht Selfies an, das Stalken von Freunden, Feinden und Fremden in den Tiefen des Internets, lässt sie sich selbst reflektieren. Vielleicht ist es an der Zeit, mal wieder eine digitale Zwangspause einzulegen. Falls ihr mich sucht, eventuell bin ich mit Sam auf Madeira…
WAS: Sam heißt die App, die im Apple App-Store und im Google Playstore kostenlos zum Download zur Verfügung steht.
WO: Museum für Gegenwartskunst Siegen, Unteres Schloss 1, 57072 Siegen.