Faustschlag ins Gesicht
Miriam Cahns "MEINEJUDEN" im MGKSiegen

28. Juli 2022 • Text von

Nackte Körper, sexuelle Gewalt und sterbende Menschen. Die Bilder der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn treffen wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Im Zentrum steht der menschliche Körper, in all seiner Verwundbarkeit und Fragilität. Die Ausstellung “MEINEJUDEN” im MGKSiegen erzählt von Flucht und Vertreibung, zeigt wie mutig und weitsichtig Cahns Kunst war und immer noch ist.

Miriam Cahn, “HÄNDE HOCH!”, 27.1.2022, Courtesy die Künstlerin, Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe und Galerie Jocelyn Wolff, Paris, Foto: Heinz Pelz.

Im wandfüllenden Raumdunkel dehnen sich monumentale Kreidezeichnungen schwarz in schwarz bis an die Grenzen von Boden und Decke aus. Der genaue Blick offenbart inmitten des dichten Liniendickichts Zeugnisse von Bewegung, Hand- und Fingerabdrücke sowie Fußspuren. Sie formen sich zu Symbolen des “Kalten Kriegs”, bilden Sprengköpfe, Hochhäuser, Kriegsschiffe, aber auch weibliche Körper und bestimmen in ihrer Gesamtheit den politischen “WACH RAUM”. Aus dieser dunklen Unwucht betreten die Besuchenden des Museums für Gegenwartskunst in Siegen Räume von expressiver Farbigkeit, begegnen im lichten Weiß der Leinwand in Auflösung begriffenem Bildpersonal. Von überall blicken aus ineinanderlaufenden Farben gebaute Gesichter mit großen schwarzen, weißen, blauen, gelben Augen ihr Gegenüber an, über es hinweg oder in es hinein. Dazwischen bloße Körper, fragil und schutzbedürftig, die in ihrer Nacktheit Ausdruck des allseits bedrohten Lebens sind. Auf Augenhöhe platziert, stehen sie den Betrachtenden unmittelbar entgegen, drängen sich auf, zwingen zur intensiven Begegnung.

Miriam Cahn, “WACH RAUM m. April/Mai 1982”, Installationsansicht “MEINEJUDEN. 14. Rubenspreis der Stadt Siegen”, MGKSiegen, Courtesy die Künstlerin, Galerie Jocelyn Wolff, Paris, und Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe, Foto: Philipp Ottendörfer.

Vergleichbar distanzlos ist ihre Entstehung, wenn die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn historisch männlich konnotierte Malerposen umgeht, indem sie in kauernder oder liegender Position nichts mehr sehen oder verbessern will und kann. Zumeist sind die kontrastreichen Arbeiten innerhalb nur eines einzigen Tages oder weniger Stunden fertiggestellt. Besonders farbgewaltig lösen sich die im Kontext von Tschernobyl entstandenen Aquarelle von Atompilzen aus dem Formchaos, wenn aufs Papier geschleuderte Farben nach unten fließen, sich vermischen und sich der Kontrolle der Künstlerin entziehen. Die vernichtende Schönheit der Atompilze wird zum Ausdruck der unauflöslichen Widersprüchlichkeit unserer zutiefst zwiespältigen Welt.

Miriam Cahn, Installationsansicht “MEINEJUDEN. 14. Rubenspreis der Stadt Siegen”, MGKSiegen, Courtesy die Künstlerin, Galerie Jocelyn Wolff, Paris, und Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe, Foto: Philipp Ottendörfer.

Cahns Bilder zeigen, was sonst schambehaftet, fremdbestimmt ist oder gesellschaftlich unterdrückt wird. Sie widmen sich Themen wie Lust, Sexualität, Selbstbefriedigung und Geburt aus weiblicher Sicht, entziehen sich dem traditionell männlichen Blick. Doch nicht nur zärtliche Momente nehmen Gestalt an, sondern auch rohe Szenen von Gewalt als Ausdruck von Unterdrückung, Rassismus und Machtgebaren. Die Wucht der schlagenden Faust ist verstörend explizit, verkehrt gängige Opfer-Täter-Rollen und veranschaulicht die stetige Präsenz von Gewalt in einer von männlichen Machtverhältnissen dominierten Weltordnung. In einer Zeit entstanden, in welcher der Körper in Performance und Video sich zum zentralen künstlerischen Instrument emanzipierte, steht die Physis der Künstlerin im Mittelpunkt der Betrachtung. So bilden Cahns Arbeiten vom suchenden Ich aus Gefühlen und Erinnerungen kartierte Standortbestimmungen.

Miriam Cahn, “schnell weg!”, 27. + 30.1.2021, Courtesy die Künstlerin, Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe und Galerie Jocelyn Wolff, Paris, Foto: Heinz Pelz.

In Miriam Cahns Werkschaffen verschränken sich subjektive Empfindungen, persönliche Erfahrungen und familiäre Erinnerungen mit gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen. Eigenes und öffentliches Empfinden werden einander gegenübergestellt. Ihre ganz persönliche Familiengeschichte, geprägt von Flucht und Vertreibung, machte die Künstlerin zur aufmerksamen Beobachterin von Migrationsbewegungen auf der ganzen Welt, wenn ihr Blick auf den Bosnienkrieg, 9/11, Folterbilder von Abu-Ghraib und den Bürgerkrieg in Syrien fällt. Seit den 1970er Jahren engagiert Cahn sich zudem politisch-aktivistisch in der Schweizer AKW- und Frauenbewegung. Der menschliche Körper steht dabei im Fokus, in all seiner Verwundbarkeit und Fragilität. Immer wieder aber schimmert die politische Dimension durch das transparente Konzept von Identität, wenn die Umgebung über gemalte Traumwelten hinaus zum Transitraum oder zur strategischen Landschaft aus der Perspektive eines Bomberpiloten wird.

Miriam Cahn, Installationsansicht “MEINEJUDEN. 14. Rubenspreis der Stadt Siegen”, MGKSiegen, Courtesy die Künstlerin, Galerie Jocelyn Wolff, Paris, und Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe, Foto: Philipp Ottendörfer.

“MEINEJUDEN” zeigt als eine Art Großinstallation in von der Künstlerin selbst arrangierten Räumen einen Querschnitt ihres umfangreichen Gesamtwerks. Jüdischsein ist für Cahn ein wiederkehrendes Thema und mehr eine Frage von selbstgewählter Zugehörigkeit als von Abstammung allein. Eine Zugehörigkeit jedoch, die oft als Bürde wahrgenommen wird, eng mit Erfahrungen von Diskriminierung und Fremdsein zusammenfällt. So empfand es Cahn angesichts antisemitischer Äußerungen, als ihre Pflicht “ihre Juden” gegen noch immer präsenten Antisemitismus im Alltag zu verteidigen. Sie stellte fest, wie in Deutschland ihre jüdische Identität plötzlich schwerer wog und wünschte sich, die vornehmlich aus Porträts bestehende, 2005/2006 entstandene Serie “meinejuden” im Deutschland der Gegenwart auszustellen. Die Werkschau in Siegen präsentiert diese Serie nun gemeinsam mit eindringlichen Bildern von Gedenkstätten und ehemaligen Konzentrationslagern.

Miriam Cahn, “das schöne blau”, 2021 + 10.1.2022, Courtesy die Künstlerin, Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe und Galerie Jocelyn Wolff, Paris, Foto: Heinz Pelz.

Mit “MARE NOSTRUM” ist eine weitere Werkgruppe überschrieben, die ab 2015 im Zusammenhang mit der sog. “Flüchtlingskrise” entstand und medial verbreitete Bilder aufgreift. Der Titel wird doppeldeutig mit “Mittelmeer” oder mit “unser Meer” übersetzt oder aber gedanklich mit der 2013/14 durchgeführten Marineoperation zur Rettung Geflüchteter vor dem Ertrinken verknüpft. In tiefes Blau sinken durchscheinende Körper mit angsterfüllten Augen hinab, verlieren sich bis sie verschwunden sind im scheinbar bodenlosen Abgrund. Die Arbeiten erzählen von einem unbändigen Zorn und der Scham angesichts europäischer Flüchtlingspolitik. So wie all ihren Arbeiten ein widerständiger, unbequemer und zorniger Impetus innewohnt. In aktuellen Skizzenheften fragt sie: “Sind Ukrainer die besseren Flüchtlinge?” Eine Frage, die wie ein Fausthieb ins Gesicht trifft.

WANN: Die Ausstellung “MEINEJUDEN” von Miriam Cahn läuft noch bis Sonntag, den 23. Oktober.
WOMuseum für Gegenwartskunst Siegen, Unteres Schloss 1, 57072 Siegen.

Wenn ihr mehr über Miriam Cahn erfahren wollt, findet ihr hier eine Besprechung der Ausstellung “Miriam Cahn. Ich als Mensch” im Haus der Kunst von Autorin Julia Anna Wittmann.