Meisterin der Tränen
Eine Ausstellungsoper von Anastasia Bay

10. Mai 2024 • Text von

Subversive Charaktere bevölkern die Arbeiten der französischen Malerin Anastasia Bay. In ihrer als Oper konzipierten Ausstellung “Maestra Lacrymae” in der Galerie Sorry We’re Closed zeigt sie Bilder, Kostüme und skulpturale Objekte. Kombiniert mit der Musik von Joseph Schiano di Lombo entsteht ein narratives, dramaturgisches, groteskes und verschlüsseltes Spiel.

Anastasia Bay: Maestra Lacrymae, 2024, exhibition view, Sorry We’re Closed, Foto: © Hugard & Vanoverschelde.

Der Harlekin ist eine komplexe, fantastische Figur. Das gefleckte Muster seines Kostüms spiegelt die verschiedenen Facetten dieser exzentrischen Bühnenfigur der Commedia dell’Arte wider.  Er ist ein rebellisches und ungestümes Genie, das seine Backen aufbläst und mit den Augen rollt. Der verrückte Narr, der die unsäglichen Wahrheiten aussprechen darf und Autoritäten in Frage stellen kann. Der Harlekin ist nicht greifbar, man kann ihn nicht auf einen Nenner bringen. Er bleibt ambivalent zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Gut und Böse, Recht und Unrecht. Der Harlekin ist auch ein zentraler Charakter in der künstlerischen Praxis der Malerin und Bildhauerin Anastasia Bay.

Anastasia Bay: Maestra Lacrymae, 2024, exhibition view, Sorry We’re Closed, Foto: © Hugard & Vanoverschelde.

Die französische Künstlerin, die in Brüssel lebt und arbeitet, bezieht sich auf unterschiedliche kunsthistorische und mythologische Quellen und nutzt diese für zeitgenössische bildliche Darstellungen von figurativen Archetypen. Für ihre zweite Einzelausstellung in der Galerie Sorry We’re Closed in Brüssel hat Anastasia Bay ein vielschichtiges Opus in Form einer Ausstellungsoper mit fantastischen Elementen geschaffen. Im Projekt “Maestra Lacrymae” werden Figuren und Konzepte aus ihren jeweiligen Epochen entnommen und in der Gegenwart erneut zusammengefügt. Bays Charaktere füllen ihre oft großformatigen Gemälde aus, die Körper erstrecken sich über die gesamte Leinwand. Antihelden bevölkern diese Bilder, Sänger, Akrobaten, Bogenschützen, Dissidenten und Rebellen, die sich tarnen, andere Identitäten vortäuschen und neue Rollen spielen.

Anastasia Bay: Maestra Lacrymae, 2024, exhibition view, Sorry We’re Closed, Foto: © Hugard & Vanoverschelde.

Das Spiel mit Rollen, Identitäten und die Hinterfragung von Formen der Repräsentation stehen im Zentrum dieser Ausstellung. Neben einer beeindruckenden Auswahl an Gemälden zeigt die Künstlerin auch Objekte aus Keramik und eine Reihe von Kostümen, die ihren bildlichen Kosmos in die reale Welt erweitern. Bei einer Performance im Kultur-Palais Bozar wurden diese Kostüme von Performern  getragen. Die Zuseher*innen, selbst mit Papiermasken ausgestattet, wurden ebenfalls zu einem aktiven Teil dieser performativen Maskerade. Das gesamte Projekt ist als Oper konzipiert, neben den bildlichen Aspekten gibt es auch eine musikalische Ebene. Die Musik und die Texte der Oper wurden von Joseph Schiano di Lombo komponiert, der jede Figur zum Leben erweckt und sie so in die Gegenwart hebt. Das gesamte Stück besteht aus fünf Akten und einer Reihe von Szenen.

Anastasia Bay: Maestra Lacrymae, 2024, exhibition view, Sorry We’re Closed, Foto: © Hugard & Vanoverschelde.

Düster und brutal, grotesk und gefährlich. Anastasia Bay verbindet in ihrem Projekt Protagonisten und Kostüme, Bilder und Objekte, Musik und Sprache. Das Ergebnis ist ein durchaus narratives und dramaturgisches Spektakel, das wie ein verschlüsseltes Spiel auf vergangene Rituale verweist. Karneval und Mythos kollidieren mit unserer Realität. “Maestra Lacrymae” ist ein mehrschichtiges Schauspiel, das seine Uraufführung nicht zu unrecht im Land von James Ensor oder Pieter Bruegel dem Älteren feiern durfte.

WANN: Die Ausstellung “Anastasia Bay: Maestra Lacrymae” ist noch bis zum 6. Juli 2024 zu sehen.
WO: Sorry We’re Closed, Rue des Minimes 39, 1000 Brussels, Belgium.

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