Der Blick zurück
Martine Syms in der Stiftung Lafayette Anticipations

24. November 2024 • Text von

Martine Syms verwandelt die Räumlichkeiten der Pariser Stiftung Lafayette Anticipations in ein immersives Shopping-Paradies. Künstlerische Arbeiten werden dort neben verkäuflichen Merchandise-Artikeln präsentiert werden. Hält die Kunst im Alltag Einzug oder der Kommerz in der Kunst?

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Martine Syms, Meditation, 2021. [Still] Vidéo digitale (couleur, son) © Martine Syms. Courtesy the artist.

Seit Jahren beschäftigt sich die 1988 geborene amerikanische Künstlerin Martine Syms mit Aufmerksamkeitsökonomien und der medialen Repräsentation zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen im Internetzeitalter, insbesondere von People of Colour. In filmischen Arbeiten, die sich stilistische Mittel von Social Media, Werbung und Popkultur aneignen und ästhetisch zwischen Tiktok-Clip und Trapvideo mäandern, verwebt sie Privataufnahmen mit Archivmaterialen, etwa von politischen Protesten.

Die öffentliche und die private Sphäre sind in Syms Arbeiten wie in der virtuellen Welt kaum zu distinguieren: Sie spiegeln eine totalitäre Sichtbarkeitsökonomie, die ihre Fühler in jeden noch so kleinen Winkel des Privatlebens ausstreckt und schließlich jene Bilderflut gebiert, die Menschen heute tagtäglich umspült. Die Bedeutung dieser für die Identitätsfindung und der schmale Grat zwischen Selbstinszenierung und Überwachung sind die zentralen Themen in Syms Arbeiten.

Die Auflösung von Kategorien wie Außen und Innen, aktiv und passiv erreicht Syms dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch formal durch szenografische Landschaften, in die sie ihre filmischen Arbeiten bettet. Bei Betreten werden aus Besucher*innen unweigerlich Akteur*innen. Für ihre erste Einzelausstellung in Frankreich hat sie diesen Ansatz perfektioniert. „Total“ heißt die Schau und demonstriert die Durchdringung von Kunst und Leben in leiser Anlehnung an Richard Wagners Begriff des „Gesamtkunstwerks“. Kunst, Mode und Popkultur werden Seite an Seite präsentiert.

Für diese, dann wieder ganz unwagnerische, Entauratisierung des Kunstbegriffs wählt Syms ein allumfassendes Leitmotiv. Die modernen, von Rem Kohlhaas gestalteten Ausstellungsräumlichkeiten der Lafayette Anticipations, der Kunststiftung des Luxuskaufhauses Galeries Lafayette, verwandelt sie — zugegebenermaßen nicht unpassend zum Trägerkonzern — in ein Warenhaus.

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Ausstellungsansicht Martine Syms “Total”, Lafayette Anticipations, Paris. Courtesy of the artist, Bridget Donahue, New York, Sadie Coles HQ, Londres, & Sprüth Magers © Aurélien Mole, Lafayette Anticipations.

Temporäre Holzwände strukturieren nun die über drei Etagen verteilten Räume. Immer wieder werden diese von Verkaufsinseln in Form von Sockeln oder Kleiderstangen durchsetzt, auf denen diverse Artikel attraktiv arrangiert zum Kauf anregen. Schlüsselanhänger, Caps, Taschen und Trinkflaschen gibt es da, aber auch hochpreisige Fashion-Pieces. Für jeden Geldbeutel ist ein Martine-Syms-Fanartikel dabei, oftmals prangt ihr Name darauf. Kleine Editionen in Form von Gebrauchsgegenständen quasi, die sich den Weg aus der Ausstellung in die Leben der Besucher*innen bahnen: Kunst to-go für Zahlungswillige. 

Videoarbeiten aus den letzten Jahren werden auf Screens präsentiert, die, in T-Shirts gerahmt oder in mit Paketband umschlungene Pappkartons gefasst, ebenfalls in Warenform gepresst wurden und wirken, als wären sie soeben erst eingetroffen oder könnten jeden Moment wieder verschickt werden. Hinter provisorischen Trennwänden lauern in lagerähnlichen Nischen Berge von Kartons und Taschen. Die Außenwände der Ausstellung sind bedruckt oder mit Zeichnungen versehen. Schnell stellt sich Reizüberflutung ein, Rollenbilder geraten ins Wanken. Museumsbesucher*innen werden zu Shoppingwütigen, zu Statisten in dem, was Syms als „theater of the everyday” bezeichnet – als alltägliches Theater. Das von ihr geschaffene Umfeld wird zur Bühne für ein unsichtbares Skript, das unmerklich Einfluss auf Verhalten und Normen der Anwesenden nimmt.

Jede*r will ein Stück von Martine mit nach Hause nehmen. Und auch Syms gewährt Zutritt in ihr Privatleben: Ein Raum ist ihrem Atelier in Los Angeles nachempfunden. Die Arbeit „Studio Wall“gibt den Blick auf ihren Schreibtisch frei und lüftet das Geheimnis der Schatzkammer künstlerischer Produktion. Noch das Intimste, so scheint die Message, kann als Puzzlestück in der Inszenierung einer Künstler*innenpersona monetarisiert werden.

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Martine Syms, This Is A Studio, 2022-23. Bande de polyester tissé, carton découpé au laser, vinyle Orafol avec adhésif permanent ; vidéo digitale (noir et blanc, avec son) © Martine Syms. Courtesy of the artist & Sprüth Magers.

Eine andere Arbeit blickt gewissermaßen aus Syms Atelier heraus und kehrt die Hierarchien der Blickpolitiken um. In „This Is A Studio“ schauen Besucher*innen gemeinsam mit der Künstlerin durch den Spion ihres Studios in Los Angeles vor dessen Tür Polizist*innen stehen und gewaltsam einzudringen drohen. Aus Angst, ihre Identität preiszugeben, verstellt Syms ihre Stimme. Wie nahe der Schutz der Einen mit der Gefährdung der Anderen verbunden ist, belegen auch Sequenzen weiterer Arbeiten, die die Morde an George Floyd und Michael Brown aufgreifen.

Neben der Exekutive sind es aber vor allem Überwachungsmaßnahmen, die Syms einer kritischen Revision unterzieht. In Ihrem Oeuvre hat sie einen Begriff für die Tatsache gefunden, das menschliches Leben global unter den Augen von abertausenden Kameralinsen stattfindet. „Real Life Cinema“ nennt sie das Phänomen und meint damit weniger ein selbstbestimmtes Festhalten persönlicher Momente, denn oktroyierte Aufnahmen durch Überwachungskameras im öffentlichen Raum. Unter dem Deckmantel der Neutralität agierend ist ihnen die Kategorisierung der erfassten Subjekte entlang von Race, Klasse oder Gender oftmals inhärent.

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Ausstellungsansicht Martine Syms “Total”, Lafayette Anticipations, Paris. Courtesy of the artist, Bridget Donahue, New York, Sadie Coles HQ, Londres, & Sprüth Magers © Aurélien Mole, Lafayette Anticipations.

Spätestens im obersten Stockwerk angekommen offenbart sich Besucher*innen die ganze Dimension dieses „Real Life Cinemas“ sowie ihre unausweichliche Besetzung in dessen Drehbuch. In einer Art Kontrollraum stehen auf Schreibtischen diverse Bildschirme, die unablässig Live-Aufnahmen von Überwachungskameras aus den Ausstellungsräumlichkeiten übertragen. Jeder Winkel ist von hier aus einsehbar. Der Blick wird endgültig zurückgeworfen, Machtverhältnisse umgekehrt und offengelegt.

In ihrem 1999 veröffentlichten Essay „The Oppositional Gaze“ schreibt Bell Hooks über die emanzipatorische Kraft des Blicks. Für Schwarze Menschen, führt sie aus, gäbe es Räume der Handlungsfähigkeit, in denen sie den Blick des Anderen befragen, zurückschauen und das, was sie sehen, benennen könnten. So sei der eigene Blick schon immer ein Mittel des Widerstands für kolonisierte Schwarze Menschen weltweit gewesen. Auch bei Syms wird er, das demonstriert die Ausstellung eindrücklich, zum zentralen Thema und Instrument.

Die Ausstellung „Total“ nutzt den kommerziellen Raum des Geschäftes als Bühne, auf der Besucher*innen die, im Spätkapitalismus immer einflussreicher werdenden, Repräsentationsmechanismen und Aufmerksamkeitsökonomien – ob virtuell oder analog – am eigenen Körper erfahren. Trotz Social-Media Ästhetik vieler Arbeiten verbleibt die Kamera bei Syms keineswegs in der Rolle der freundlichen Komplizin bei der Herstellung von Sichtbarkeit.

Gewiss liegt dem Übereinanderlegen von kommerzieller und künstlerischer Landschaft oder dem Vergleich zwischen Shop und Studio aber noch ein weiterer Reflexionsaspekt nahe: Strategisch klug während der dritten Ausgabe der Kunstmesse Art Basel Paris eröffnet, scheint ein kritisches Nachdenken über die Ware Kunst und ihre Vermarktung bei Besuch der Ausstellung unumgänglich.

Dass der Marktwert eines Kunstwerks zunehmend auch an eine Celebrity-Kultur rund um Künstler*innen geknüpft sei, attestierte Isabelle Graw bereits 2008 in ihrem Buch „Der große Preis“. Während Graw allerdings noch davon ausging, dass der Kunstmarkt vom Glauben an die Marktferne seines Produkts lebe, scheint dieses Credo bei Martine Syms endgültig aufgehoben. Leichtfüßig wandelt sie zwischen Autoreflexion, Selbstironie und Vermarktungsstrategie.

WANN: Die Ausstellung “Total” von Martine Syms läuft bis zum 9. Februar 2025.
WO: Lafayette Anticipations, 9 Rue du Plâtre, 75004 Paris.

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