Das neue Müde
Marcel Walldorf im Neuen Gießener Kunstverein

1. April 2022 • Text von

Auf dem Friedhof hinterm Neuen Gießener Kunstverein ist nie besonders viel los. In der Kneipe gegenüber hingegen herrscht reger Betrieb. Mit den Lockerungen der Corona-Beschränkungen kehrt zunehmend Leben ein in Gastro- und Kulturetablissements. Endlich macht alles auf, doch Marcel Walldorf macht dicht.

Ein schwarzes Pferd aus Plastik liegt erschöpft am Boden des Neuen Gießener Kunstvereins. Blick durchs Fenster in den Innenraum.
Marcel Walldorf “Heute Ruhetag”, Neuer Gießener Kunstverein, 2022. Foto: Niko Neuwirth.

Marcel Walldorfs Ausstellung „Heute Ruhetag“ im Neuen Gießener Kunstverein sieht von Weitem aus, als gäbe es nichts zu sehen. Doch wer sich an die Fensterfront vorwagt, entdeckt einen leblosen Pferdekörper am Boden. Eingeknickt und weggesackt scheint der präparierte Plastikleib, das Tier gebrochen an Arbeitslast und Leistungsdruck. Das Kunstwerk kann sinnbildlich verstanden werden. Es repräsentiert die Auswirkungen einer Gesellschaft, die ein Innehalten nur duldet, sofern es sich nicht unbedingt vermeiden lässt.

Wo in anderen Zeiten die ganz große Kapitalismuskritik in den Vordergrund gerückt wäre, drängt sich heute der gesamtgesellschaftliche Schwebezustand mit Grundstimmung „meh“ als Rezeptionshorizont für Walldorfs Arbeit auf.

Schild mit "Heute Ruhetag" in altmodischer Schrift.
Marcel Walldorf “Heute Ruhetag”, Neuer Gießener Kunstverein, 2022.

Vor etwa einem Jahr wurde der Auffangtatbestand für allgemeine Ohnmacht und Hilflosigkeit noch humoristisch mit dem Schlagwort „mütend“ verziert, ein Neologismus aus müde und wütend. Man steht morgens auf und man kann so gar nichts tun. Nichts für die Welt und auch nichts für sich selbst, weil das Fitnessstudio zu ist und die Freundin positiv auf Corona getestet wurde.

Längst ist bekannt, dass „mütend“ ein psychisches Phänomen von globaler Bedeutung beschreibt. Das defizitäre Lebensgefühl während der Pandemie zeigt bereits gravierende Folgen. Bereits im März 2021 bemerkte fast jede zweite Person mit diagnostischer Depression eine Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufes, wie aus dem Deutschland-Barometer Depression hervorgeht. Auch Menschen ohne Erkrankung empfanden demnach die allgemeine Lage als zunehmend belastend.

Ein schwarzes Pferd aus Plastik liegt erschöpft am Boden des Neuen Gießener Kunstvereins.
Marcel Walldorf “Heute Ruhetag”, Neuer Gießener Kunstverein, 2022. Foto: Niko Neuwirth.

Bevor also noch die im Vergleich zum Phänomen „mütend“ doch denkbar traditionelle Frühjahrsmüdigkeit als ursächlich für Apathie und Erschöpfung zitiert wird: Marcel Walldorf scheint mit seiner Ausstellung – absichtlich oder nicht – ganz dicht angedockt haben an die Emotionen der Stunde. Sein Ruhetag steht für alle Ruhetage, die wir nie wollten, aber erlebt haben, und für die, die wir bräuchten, aber nicht nehmen können.

Wie auftanken? Dafür liefert der Künstler keine Patentlösung. Vielleicht findet man ihn am Tresen von Pit’s Pinte, in der Kneipe gegenüber.

WANN: Die Ausstellung „Heute Ruhetag“ von Marcel Walldorf läuft bis Samstag, den 23. April.
WO: Neuer Kunstverein Gießen, Licherstraße, Nahrungsberg Ecke, 35394 Gießen.