Dualität der Identität Luo Yang bei Migrant Bird Space
16. November 2024 • Text von Carolin Kralapp
Anmutig, divers und fragil: In der Ausstellung “Diaspora Birds” bei Migrant Bird Space porträtiert Luo Yang eine junge Generation asiatischer Migrant*innen in Europa. Ihre Fotografien erzählen berührende Geschichten von kulturellen Konflikten, von individuellem Zerrissensein, vom Verlieren und Wiederfinden, von gescheiterten Beziehungen und gestärkten Neuanfängen – stets im Dazwischen, irgendwo zwischen Heimat und Zuhause.
Quyny ist die Tochter vietnamesischer Immigrant*innen und lebt in Berlin. Sie arbeitet als Fotografin. Auf die häufige Frage, woher sie komme, antwortet sie: “Ich bin Vietnamesin, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen.” Damit möchte sie die beiden Welten sichtbar machen, die sie geprägt haben. Gegen den Willen ihrer Eltern zog sie für ein halbes Jahr nach Hanoi, um sich auf die Suche nach ihren Wurzeln zu begeben und die Kultur besser kennenzulernen, die ebenso zu ihrer Identität gehört. Es war die bisher schönste und zugleich schmerzhafteste Zeit ihres Lebens. Sie kehrte in jenes Land zurück, das ihre Eltern einst mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Tochter verlassen hatten. Diese Gedanken begleiten sie bis heute: Quyny hadert, empfindet Schuldgefühle und kämpft mit Tränen, wenn sie ihren deutschen Pass betrachtet – ein Symbol für Privilegien, die vielen Menschen in ihrem Herkunftsland verwehrt bleiben.
Cat Yen ist Grafikdesignerin und Model. Sie stammt aus Taiwan und lebt seit 2015 in Berlin. Mit 17 verließ sie Taiwan und zog nach Australien, um dort die Schule abzuschließen. Mit 18 heiratete sie einen Australier, und gemeinsam zogen sie erst zurück nach Taiwan, dann wieder nach Australien. Nach sieben Jahren Beziehung verliebte sich Cat Yen in eine Frau aus Estland und reichte die Scheidung ein. Wann immer sie die Wahl zwischen Liebe und Stabilität treffen muss, entscheidet sie sich für die Liebe. Gemeinsam mit ihrer neuen Partnerin lebte sie auf engstem Raum in einem kleinen Trailer, auf dem Hinterhof von Freunden. Mit 31 Jahren trennte sich Cat Yen erneut und brach in ein ungewisses Leben auf – diesmal nach Europa, nach Berlin.
Lucie Zhang ist in Paris geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus China und lernten sich in einem kleinen, charmanten chinesischen Restaurant kennen, das heute einem Mc Donald’s gewichen ist. Sie war, wie ihre Eltern es nennen, ein “Unfall” – ein glücklicher “Unfall”, ohne den die Familie nie gewachsen wäre. Lucie hat zwei jüngere Geschwister. Als sie etwa zwei bis drei Jahre alt war, lebte sie für eine Weile bei ihren Großeltern in Zhengzhou, eine Zeit, die sie stark geprägt hat. Chinesisch ist ihre Muttersprache: Sie isst, hört, lacht, weint und schreit auf Chinesisch. Als sie schließlich nach Frankreich zurückkehrte und dort auch den Großteil ihrer Schulzeit verbachte lernte sie Französisch. Wann immer sie sich höflich und rational ausdrücken möchte, gelingt ihr das besser auf Französisch.
Dies sind nur einige der Geschichten, die hinter den Gesichtern stecken, die Luo Yang mit ihrer Kamera in den letzten zwei Jahren eingefangen hat. Sie bereiste Europa und traf Menschen mit unterschiedlichen asiatischen Hintergründen – junge Menschen mit Migrationshintergrund in erster, zweiter, dritter Generation unter anderem aus China, Vietnam, Indonesien, den Phillipinen und Kambodia. Die Protagonist*innen sind Personen der LGBTQIA+ Community, Kinder politisch geflüchteter Menschen, Student*innen. Einige dieser Begegnungen sind derzeit bei Migrant Bird Space in Berlin in der Ausstellung “Diaspora Birds” zu sehen. Die Künstlerin selbst stammt aus der Provinz Liaoning, dem Nordosten Chinas.
Die Fotoserie zeigt größtenteils Nahaufnahmen von Gesichtern, von Kleidung und Körpern, von Schmuck und Tattoos. Die Betrachter*innen kommen den Protagonist*innen sehr nah, blicken ihnen tief in die Augen. Ganz ähnlich die wie die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin offenbart sich in Luo Yangs Arbeiten die Faszination für die Menschen, die sie begleitet. Die Bilder stecken voller Wärme und Wertschätzung und zelebrieren die Schönheit der Vielfalt. Durch Luo Yangs Linse werden persönliche Herausforderungen und Emotionen, Stärke und Verletzlichkeit der Protagonist*innen greifbar. Sie zeigt die Menschen in intimen, stillen Momenten: nackte Körper, Brüste, Narben. Alles wird gezeigt, wie es ist – ehrlich, pur und in nicht-sexualisierten Posen.
Jugendlichkeit spielt eine zentrale Rolle in Luo Yangs Werk. Schon in ihrer Serie “Girls”, die eine junge Generation von Frauen und Frauenbildern im zeitgenössischen China beleuchtet, ist sie allgegenwärtig – ebenso wie die damit verbundene Verletzlichkeit und Formbarkeit. In “Diaspora Birds” zeigt sie nicht nur weiblich gelesene Personen, doch auch hier wirken die Porträtierten gleichermaßen furchtlos, cool und selbstbewusst, während sie gleichzeitig gefühlvoll, zart und ungeschliffen erscheinen, ihre Narben offenlegen. Es ist, als wären ihre Geschichten noch lange nicht zu Ende erzählt. Diese Gleichzeitigkeit von Emotionen und Zuständen, die das Leben prägen, wird in den Bildern auch visuell greifbar. Die Glaubwürdigkeit und Authentizität von Fotografien anzuzweifeln, ist in Zeiten von KI und Fake News eine berechtigte Kritik. Ein Foto ist schließlich immer auch eine Inszenierung und eine subjektive Erzählung. Luo Yangs Bildsprache ermöglicht es den Betrachter*innen jedoch, in die individuellen Geschichten und Hintergründe ihrer Fotomodelle einzutauchen. Auch wenn die Bilder ästhetisch und inszeniert sind, büßen sie nichts an Glaubwürdigkeit ein.
Die Fotografien sind weit mehr als der Versuch, die Vielfalt einer jungen Generation mit Herkunft aus verschiedenen asiatischen Ländern abzubilden. Anhand individueller Geschichten zeigen sie Möglichkeiten der kulturellen Integration auf, feiern die Schönheit der Vielfalt und laden uns ein, einander wirklich anzusehen. Sie schaffen einen Raum, der die Verbindung von westlichen und östlichen Kulturen erfahrbar macht. Die Porträts sind ein leiser Appell, die Vielfalt der kulturellen Hintergründe zu würdigen, zu respektieren und in unser Miteinander einzubinden. Sie erinnern uns daran, dass wir voneinander lernen können, wenn wir mit offenen Augen und Herzen durch die Welt gehen. Selten hat es sich so bedeutsam angefühlt, diese Worte zu schreiben und wieder an unsere Menschlichkeit zu appellieren, die uns vielerorts auf der Welt gerade verloren zu gehen scheint.
WANN: Die Ausstellung “Diaspora Birds” läuft bis zum 28. Dezember.
WO: Migrant Bird Space, Koppenplatz 5, 10115 Berlin.
Wer noch weiterlesen mag: Die einzelnen Geschichten der Porträtierten können hier auf der Website der Galerie oder auf dem Instagram-Profil von Luo Yang nachgelesen werden.