Sie wollte raus, um jeden Preis
Libuše Jarcovjáková in der Nationalgalerie Prag

4. März 2025 • Text von

Seit den 1970er-Jahren dokumentierte die tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková das Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Ihre Fotografien von Liebe, Identität, Körpern, Macht und Freiheit – in Prag, Berlin und Japan – bilden den Ausgangspunkt für ihre retrospektive Ausstellung in der Prager Nationalgalerie. Diese zeigt die offenen und dynamischen Arbeiten einer Fotografin, die ihr Leben und ihre Umgebung seit über einem halben Jahrhundert kartografiert – und es weiterhin tut. (Text: Anna Blahaut)

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Libuše Jarcovjáková, Nationalgalerie Prag, 2024. Foto: Adéla Kremplová. // Libuše Jarcovjáková: Autoportrét, Berlín, 1985. Courtesy of the artist.

Die Ausstellung von Libuše Jarcovjáková beginnt mit einem durchdringenden Blick: Jarcovjákovás Gesicht, überlebensgroß auf einen Teppich gedruckt, führt Besucher*innen der Prager Nationalgalerie in den ersten Raum. Hier begegnen sie frühen, stillen Fotografien, begleitet von Worten, die die Arbeitsweise der tschechischen Fotografin beschreiben: Seit ihrer frühen Jugend liebe Jarcovjáková es, umherzustreifen, durch Städte oder auf dem Land zu spazieren. In sich versunken absorbiere sie die Welt, die sie umgibt, zerlege sie in Bilder, die ihre Wahrnehmung dem Außen näherbringe.

Die Betrachter*innen werden zu Kompliz*innen intimer Beobachtungen: Jarcovjákovás Leben, ihr Körper, ihre Freund*innen stehen im Mittelpunkt. 1952 geboren in ein repressives Regime, das ihren Traum von der Fotografie erschwerte, zeigt Jarcovjákovás Werk nicht nur leichte Momente. Schwarz-Weiß- und Farbaufnahmen wechseln in einer Ausstellung, die Lucie Černá nicht als klassische Retrospektive kuratiert hat. Stattdessen spielt die fluide Architektur der Ausstellung mit Farben, Texturen und Kontexten, sodass sich das Publikum in den Lebensphasen der Künstlerin verlieren kann.

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Libuše Jarcovjáková, Nationalgalerie Prag, 2024. Foto: Adéla Kremplová.

Die Zusammenarbeit zwischen Jarcovjáková und Černá prägt die Ausstellung entscheidend. Aus dem umfangreichen Archiv der Künstlerin hat Černá Fotografien ausgewählt, bearbeitet und neu kontextualisiert. Jarcovjáková beschreibt die Kooperation als einzigartig: „Dass ich jemanden gefunden habe, dem ich alles anvertrauen konnte, halte ich für eine geniale Situation.“ Černá hat die Fotografien durch Farbfilter, Bildbearbeitungen und Neuordnungen ergänzt, die den Arbeiten zusätzliche Ebenen verleihen.

Die Fotografien erzählen von Kontrolle, Anpassung und Repression, aber auch von der Suche nach Freiheit und Verbundenheit mit Anderen. Als queere Frau aus der Arbeiter*innenklasse war sie Teil marginalisierter Gruppen und dokumentierte so neben ihrer Sexualität zwei Abtreibungen, den Kampf mit ihren Depressionen, oft Orte und Menschen, die übersehen und verdrängt wurden: das nächtliche Arbeitsleben in Fabriken, die politische und soziale Situation von Roma-Familien und Wanderarbeiter*innen sowie Partys im Prager T-Club  – einem Rückzugsort für queere Menschen.

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Libuše Jarcovjáková, Nationalgalerie Prag, 2024. Foto: Adéla Kremplová. // Libuše Jarcovjáková, Nationalgalerie Prag, 2024. Foto: Adéla Kremplová.

Unterschiedliche Gesichter blicken die Betrachter*innen an – mal lachend, tanzend, mal hinter Masken versteckt, vertieft in Gespräche oder Küsse, gen Himmel schreiend. „In einem unfreien Regime hat sie Inseln der Freiheit gesucht“, sagt die tschechische Filmemacherin Klára Tasovská, die Jarcovjáková in ihrem Film “I’m Not Everything I Want to Be” porträtiert hat. „Orte, an denen Menschen aus ihrer Sicht ohne Hemmungen lebten.“ Jarcovjáková habe sich ihnen zugehörig und frei fühlen wollen. Im Film sagt die Künstlerin: „Ich wollte raus. Um jeden Preis, raus.“

Immer wieder begegnen Besucher*innen der Ausstellung in der Prager Nationalgalerie auch der Künstlerin selbst. Ihr Blick scheint dabei sowohl das Publikum als auch sich selbst zu betrachten. Die Fotografien ermöglichen eine authentische Erkundung von Ort und Zeit. Dabei reicht ihr Werk weit über die damalige Tschechoslowakei hinaus: Es umfasst ebenso Reisen nach Japan, ihren Umzug nach West-Berlin und ihre Rückkehr nach Prag in den 1990er-Jahren.

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Libuše Jarcovjáková, Nationalgalerie Prag, 2024. Foto: Adéla Kremplová.

Jarcovjákovás Arbeiten zeichnen sich durch eine klare Handschrift aus: Es sind rohe, visuell kraftvolle Bilder, die eine subjektive, aber universell ansprechende Perspektive bieten. Jarcovjáková fängt mit unerschütterlicher Ehrlichkeit die Menschen, Orte und Gefühle ihrer Zeit ein. Viele ihrer Fotografien entstanden in Phasen politischer Unterdrückung und Entfremdung. Doch statt Geschichten von Resignation erzählen sie oft von Freiheit, Lebenswillen und der Schönheit des Moments.

WANN: Die Ausstellung „Libuše Jarcovjáková“ läuft bis zum 30. März.
WO: Nationalgalerie Prag, Staroměstské náměstí 12, 110 15 Prague 1, Tschechien.

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