Aus dem Innersten heraus
Leonilson im KW Institute for Contemporary Art

10. Februar 2021 • Text von

Der brasilianische Künstler José Leonilson drückte seine persönliche Gedankenwelt offen in seiner Kunst aus. Die KW Institute for Contemporary Art in Berlin richten die erste Retrospektive des Künstlers in Europa aus. Eine berührende Ausstellung über einen jungen homosexuellen Mann in einem autoritären System auf der Suche nach sich selbst.

Links: Filzstift-Zeichnung von Leonilson, zu sehen ist eine Flasche, in der gerade ein Vulkan ausbricht, aus der Flasche tritt eine große Flamme heraus, in der Flamme sieht man ein eng umschlungenes Paar, die sich kopfüber in Richtung Flaschenhals bewegen, rechts: Filzstift-Zeichnung von Leonilson, zu sehen ist eine leere Flasche, aus der Inflammable steht, darüber steht Leonilson, darunter die Worte very shy boy
Leonilson, Untitled, 1986, Zeichnung / Buntstift auf Papier, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Romulo Fialdini. // Leonilson, Inflammable, ca. 1990, Zeichnung / Tinte auf Papier, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Eduardo Ortega.

Noch immer befinden wir uns im Lockdown, was den Offline-Ausstellungsbesuch derzeit unmöglich macht. Doch hinter den verschlossenen Türen der Museen und Galerien des Landes warten spannende Ausstellungen darauf, gesehen zu werden. So auch aktuell in den KW in Berlin Mitte. Über drei Etagen offenbart sich hier ein besonderer Schatz: Die erste europäische Retrospektive des brasilianischen Künstlers José Leonilson (1957 – 1993), die in Kooperation mit dem Moderna Museet in Stockholm, der Malmö Konsthall und dem Museu de Arte Contemporânea de Serralves in Porto entstanden ist. Leonilson war Mitglied der Geração 80, der “Generation 80”, die der neugewonnenen Freiheit nach dem Sturz der brasilianischen Militärdiktatur in den 80er-Jahren einen expressiven, symbolischen und vor allem sozialkritischen künstlerischen Ausdruck verlieh.

Leonilsons Oeuvre lässt sich nicht auf nur ein Medium eingrenzen – es ist vielschichtig. Mit über 250 Arbeiten des Künstlers zeigt das Haus die breite Bandbreite in chronologischer Abfolge und all seinen Facetten – von kleinformatigen Zeichnungen über bestickte Stoffarbeiten bis hin zu persönlichen Dokumenten, die einen Einblick in die gefühlvolle Gedankenwelt des Künstlers gewähren.

links: Ideal Vogue Magazin Cover von Leonilson, in Zine-Form, gezeichnet mit Filzstift, zu sehen ist eine bunt gekleidete Frau mit blonden Haaren und Zöpfen, grüner Sonnenbrille, Gesichtsbemalung, einer Peace-Kette um den Halt, Hautfarbe ist braun, rechts: Poster von Leonilson für die Galeria Luisa Strina and Thomas Cohn Arte Contemporanea
Leonilson, Ideal Vogue (Fanzine), 1976, Zeichnung und Text / Filzstift, Kugelschreiber und Graphit auf Papier, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Rubens Chiri. // Leonilson, Project for poster: Leonilson – Galeria Luisa Strina and Thomas Cohn Arte Contemporanea, Buntstift, Metallbleistift, Aquarell und geschnittenes Papier auf farbiges Papier geklebt, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Rubens Chiri.

In der Vielzahl von Zeichnungen drückt sich unter anderem sein besonderes Interesse für Mode aus: So gestaltete Leonilson beispielsweise 1976 “Vogue Ideal (Fanzine)”, ein Vogue-Magazin in Zine-Form, in dem er sich kritisch mit Gender-Zuschreibungen, Klassenunterschieden und marginalisierten Gruppen auseinandersetzte, denen er sich zugehörig fühlte. Hier finden sich unterschiedlichste Körperformen, Hautfarben, ausgefallene Looks, aber auch Symbole wie Totenköpfe mit Skelett oder das Friedenszeichen. Es wird spielerisch eine Diversität abgebildet, die den großen Mode-Magazinen auch heute noch an vielen Stellen fehlt.

Als Sohn eines Textilfabrikanten war Leonilson auch der Umgang mit Stoffen vertraut. So finden sich zahlreiche Stoffe in seinem künstlerischen Werk, die mit Symbolen und Worten bemalt oder bestickt, mit Knöpfen oder anderen Materialien aus seiner Umgebung versehen wurden. Man spürt regelrecht, wie Leonilson die verschiedenen Materialien nutzte und sich im Umgang mit ihnen ausprobierte, um eine eigene Sprache zu finden. Wiederkehrende Symbole, wie Flaschen, Flammen, Kreuze oder figurative Umrisse finden sich mit Worten, wie “very shy boy” oder “truth/fiction” vereint auf einer Bildfläche. Auch seine Affinität zum Reisen bildet sich deutlich in den Arbeiten ab. Neben Worten in seiner Muttersprache Portugiesisch, lassen sich auch Worte in Englisch, Niederländisch oder Französisch in seiner Kunst entdecken.  

links: Stickerei auf Stoff von Leonilson, in der Mitte ist ein Pferd zu sehen, drum herum stehen die Worte origins, pleasure, allegory und fantasy, rechts: Stickerei auf Stoff von Leonilson, ein Wesen, das bestickt ist, rechts daneben steht ilma und unten stehen die Worte handsome und selfish
Leonilson, Origins; Fantasy; Pleasure; Allegory, 1990, Stickerei / Faden auf Leinen, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Eduardo Ortega. // Leonilson, The Island one, 1991, Stickerei und Assemblage / Faden und Metall auf Leinwand, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Edouard Fraipont.

1991, das Jahr seiner HIV-Diagnose, markiert die letzte Lebens- und damit auch Schaffenszeit des Künstlers. Alle kleinformatigen Zeichnungen, die Leonilson im Jahr seiner Diagnose in einer wöchentlichen Kolumne für die Zeitung Folha de São Paulo illustrierte, befinden sich vollständig in der Ausstellung der KW. An teilweise unvollendeten Werken zeichnen sich die Kraftlosigkeit und Erschöpfung ab, die die Erkrankung mit sich zog. Die Vergänglichkeit der Liebe und der Tod finden außerdem in dieser Phase als Themen Einzug in Leonilsons Arbeiten. Sieben Zeichnungen mit dem Titel “O perigoso” (1992) , “der Gefährliche”, waren die persönliche Offenbarung seiner Homosexualität und seines Kampfes mit der Krankheit. Das erste Blatt dieser Serie ist mit einem Tropfen seines HIV-positiven Blutes versehen. 1993, im Alter von nur 36 Jahren, erlag der Künstler seiner Krankheit.

Es ist nicht unbedingt überraschend, dass Künstler*innen in ihren Arbeiten persönliche Erfahrungen und Sichtweisen verarbeiten oder diese zumindest mit einfließen lassen. Bei Leonilson ist jedoch erstaunlich, wie offen und ehrlich sich sein Innerstes visuell ausdrückt. Man findet einen direkten Zugang zu seinen sehr nahbaren Werken, während die ergreifende Biografie des Künstlers immer mitschwingt. Er erschuf sich sein eigenes kleines Universum ohne Regeln und Grenzen. Was raus musste, wurde künstlerisch freigelassen.  

links: Filzstift-Zeichnung von Leonilson, zu sehen ist eine große, kräftige Frau ohne Gesicht mit blonden Haaren, großen Brüsten, kurzen Beinen und bunter, knapper Kleidung, die Brustwarzen sind gerade so bedeckt, rechts: Filzstift-Zeichnung von Leonilson, zu sehen ist eine kleine Frau mit sehr hohen grünen High Heels, roter Hose, blaues Shirt mit einem Peace-Zeichen drauf, sehr große rote Haarschleife, Sonnenbrille und große schwarze Kreolen
Leonilson, Dinoréia, ca. 1976, Zeichnung / Filzstift, Kugelschreiber und Graphit auf Papier, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Ana Paula Latorre Ceccato. // Leonilson, Crestyana, ca. 1976, Zeichnung / Filzstift, Kugelschreiber und Graphit auf Papier, Courtesy Projeto Leonilson, Foto: Fernando Aurélio Silveira.

Hier könnt ihr bei einem Ausstellungsrundgang mit dem Direktor Krist Gruijthuijsen einen kleinen Einblick in die Ausstellung bekommen. Das Video ist in englischer Sprache. Am Donnerstag, den 11. Februar, könnt ihr außerdem bei einer Führung via Livestream dabei sein – los geht es um 19 Uhr. Am Donnerstag, den 25. Februar, wird als Begleitprogramm zudem der Dokumentarfilm “A Paixão de JL” von 2015, ebenfalls in Englisch, über die Website der KW ausgestrahlt.

Wer noch mehr zu den KW entdecken oder überhaupt erfahren mag, wo man derzeit ganz coronakonform Kunst im öffentlichen Raum sehen kann, schaut gerne hier vorbei.

WANN: Die Ausstellung ist aktuell nicht zu besichtigen. Wann Museen wieder öffnen können, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar. Die neue Laufzeit wird in Kürze auf der Website bekanntgegeben.
WO: KW Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, 10117 Berlin.

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