Kollektive Netzwerke "Aber hier leben? Nein danke." im Lenbachhaus
21. Oktober 2024 • Text von Quirin Brunnmeier
Postkoloniale Netzwerke und antifaschistische Bewegungen – in einer großen Ausstellung lenkt das Lenbachhaus den Blick auf die politischen Dimensionen des Surrealismus. Die surrealistischen Strategien erweisen sich dabei als höchstaktuell.

Wer Surrealismus hört, hat sofort Assoziationen im Kopf: schmelzende Uhren, fliegende Regenschirme und Melonen oder Telefone mit Hummer als Hörer. In der Malerei des Surrealismus verschieben sich die Ebenen, Perspektiven verkeilen sich und Körper lösen sich auf. Dieser Surrealismus ist tief im kollektiven Bildgedächtnis verankert. Dass der Surrealismus aber ein viel weiter zu fassendes Konzept ist, das in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen in den letzten einhundert Jahren auf der ganzen Welt tiefe Spuren hinterlassen hat und dabei hochrelevant geblieben ist, zeigt die aktuelle Ausstellung “Aber hier leben? Nein danke.” im Kunstbau des Lenbachhaus eindrucksvoll.

Die Ausstellung spannt ein weitverzweigtes Netzt, das Städte, Länder, Gruppen, Protagonist*innen und Zeiträume miteinander verbindet. Der Surrealismus ist hier von Beginn an eine politisierte Bewegung von internationaler Reichweite und mit internationalistischen Überzeugungen. Die Surrealisten kritisierten schon früh die europäische Kolonialpolitik und positionierten sich gegen den in Europa aufziehenden Faschismus. In mehreren Kapiteln spannt die Ausstellung einen nicht linearen Bogen, der unter anderem Paris mit Prag, Frankreich mit der Karibik und Deutschland mit dem Spanischen Bürgerkrieg in Beziehung setzt.

Natürlich werden in der Ausstellung Arbeiten von Künstler*innen wie René Magritte, Joan Miró, Toyen, oder Pablo Picasso gezeigt, diese stehen aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr wird das Augenmerk in dieser breit aufgefächerten Ausstellung auf die Dynamiken und Ziele der unterschiedlichen Ausprägungen des Surrealismus gelegt. Surrealistisches Denken und Handeln fand immer schon an mehreren Orten und unter verschiedenen Vorzeichen statt. Im Zentrum scheint aber immer die individuelle wie gesellschaftliche Verhandlung von politischen und ästhetischen Ansprüchen zu stehen. Die vermeintlich rationale Welt sollte dekonstruiert werden, das Ziel war ein Konzept von Freiheit, das außerhalb einer eingegrenzten Vorstellungswelt existieren sollte.

Der Surrealismus war und ist eine diskursive und vernetzte Bewegung, in der unterschiedliche Positionen miteinander in Beziehung stehen. Das Verhältnis von Kunst und Politik stehen im Zentrum dieser Bewegungen. In Zeiten extremer Veränderungen und interner wie externer Bedrohungen verband die Protagonist*innen der unterschiedlichen Strömungen der Wunsch nach gegenseitigem Austausch. Der Surrealismus kann als Ansatz verstanden werden, sich gemeinsam, über Grenzen, Nationen und Genres hinweg, den Widrigkeiten einer sich bedrohlich verändernden Welt zu stellen. In einer Zeit multipler Krisen und Bedrohungen eine höchstaktuelle Praxis.
WANN: Die Ausstellung “Aber hier leben? Nein danke.” ist noch bis zum 2. März 2025 zu sehen.
WO: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstraße 33, 80333 München.