Der Weg raus aus der Nabelschau Lena Ditte Nissen in der Gemeinde Köln
7. Februar 2022 • Text von Anna Meinecke
1945 sorgt sich ihre Großmutter um das Schicksal des Führers. Das weiß Lena Ditte Nissen aus deren Tagebüchern. Die Künstlerin und Filmemacherin setzt sich seit Jahren mit der Geschichte ihrer Familie im Nationalsozialismus auseinander. Die Gemeinde Köln zeigt ihren “Chaosmos des Persönlichen”.
gallerytalk.net: Wusstest du schon immer, was deine Vorfahren während der NS-Zeit gemacht haben?
Lena Ditte Nissen: Ich habe mit 14 Jahren erfahren, wer mein Großonkel war: der Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti. Mich hat das damals ziemlich überfordert, weil auch klar war, dass wir in der Familie nicht darüber sprechen. Der Nationalsozialismus, der Holocaust, der Zweite Weltkrieg – das waren Themen, über die nicht geredet wurde. Und ich denke, dass genau darin der Grund zu finden ist, weshalb ich mich heute in meiner künstlerischen Arbeit so eingehend mit diesem Thema beschäftige. Ich habe einfach noch viele Fragen.
Nachdem du als Jugendliche eingeweiht wurdest, wie hat dich das Thema zunächst begleitet?
Ich habe mit 14 beschlossen, dass ich trotz meiner linken Erziehung und Einstellung niemals einer Partei beitreten werde. Ich wollte politisch nicht öffentlich in Erscheinung treten – eben aufgrund der Familiengeschichte. Macht war für mich automatisch Machtmissbrauch. Diese Überzeugung habe ich 2015 überdacht.
Was ist da passiert?
Genau in dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise habe ich zum ersten Mal die Memoiren meiner Großmutter gelesen. Die Überschneidungen von Geschichtserzählung und dem konkreten Erleben von Fremdenhass, PEGIDA – all das hat mich dazu bewogen, nun doch politisch in Erscheinung zu treten: indem ich mich mit meiner Familiengeschichte beschäftige und dabei die Möglichkeiten nutze, die mir die Kunst und das Sprechen über Kunst bietet, um meine politische Haltung sichtbar zu machen. Ich widerspreche damit Rechten und Geschichtsrelativierern.
Deine Großmutter verließ mit ihrer Familien Berlin in Richtung Westen, als 1945 die russischen Alliierten kamen. Ihr Fluchttagebuch ist Grundlage deiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte. Welche Gedanken sind bei dir besonders hängengeblieben?
Zunächst möchte ich den Begriff “Flucht” hier einmal kritisch betrachten. Nicht, dass dies nicht von der Familie genauso empfunden wurde. In meiner Auseinandersetzung mit diesem Text bin ich allerdings mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen, die den Begriff “Flucht” für eine deutsche Familie von überzeugten Nationalsozialist:innen unpassend finden. In Anbetracht der Fluchterfahrungen von Jüdinnen und Juden sowie anderer durch das nationalsozialistische Regime Verfolgter und auch mit Blick auf heute, wirkt dieser Begriff deplatziert. Was also neben einzelnen Erzählungen und Bildern aus dem Text meiner Großmutter hängen geblieben ist, ist, dass ich ihn nur mit Hilfe von anderen verstehen kann. Ich bin zu nah dran, um ihn nur allein zu lesen und zu interpretieren.
Vor etwa einem Jahr waren “Menschen mit Nazihintergrund” aufgrund eines Instagram-Live-Gesprächs zwischen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah Gegenstand einer hitzigen Feuilleton-Debatte. Die offenbarte unter anderem die Unschlüssigkeit darüber, ob und wie der eigene “Nazihintergrund” produktiv benannt und eingesetzt werden könne. Wie blickst du auf die Debatte?
Ich habe damals sehr lange über diese neue Zuschreibung nachgedacht: Nazihintergrund. Ich habe mich dann im Rahmen von “THIS IS GERMANY” von Candice Breitz dazu geäußert. Vorübergehend gab es auf Instagram auch einen Account über den viele User:innen ihren eigenen Nazihintergrund geteilt haben, der ist mittlerweile offline. Ich frage mich ohnehin, wie zielführend es ist, so kurz zu sagen: “Mein Großvater war SS-Mann”. Das kann ja nur der allererste Schritt sein, auf den dann eben, meiner Meinung nach, Gespräche und Verständigung im Heute stattfinden müssen. Ich habe für mich einen Weg raus der “Nabelschau” gesucht.
Und wie erarbeitet man anhand der eigenen Biografie eine Aussage, die nicht nur die eigene Person, die eigenen Befindlichkeiten zum Gegenstand hat?
Wenn man zum Nationalsozialismus arbeitet, begeht man ein Feld, zu dem schon wahnsinnig viel erarbeitet wurde. Da ist es mir besonders wichtig, sehr präzise zu sein, nicht missverstanden zu werden. Ich habe die privaten Aufzeichnungen meiner Großmutter, in der sie ihr ganzes Leben beschreibt, in Ausschnitten einer Gruppe von Freiwilligen gegeben – darunter auch das sogenannte Fluchttagebuch, das du vorhin angesprochen hast. Die Freiwilligen haben das Gelesene unter Leitung eines Gruppenanalytikers besprochen. Mit diesen gruppenanalytischen Gesprächen habe ich den Text für eine breitere Interpretation geöffnet: Es war möglich, ganz verschiedene Perspektiven aus dem Jetzt zu Wort kommen zu lassen.
Entstanden ist die 3-Kanal Videoinstallation “NEHMT ES WIE ES IST”. Ruth Rosenfeld und Almut Zilcher tragen dabei vor, was in der Analysegruppe erarbeitet wurde. Welche Wirkung möchtest du mit der Wahl der Schauspielerinnen erzielen?
Das Skript für die Installation habe ich ursprünglich für eine performative Intervention auf einem alten Soldatenfriedhof in Berlin erarbeitet. Da waren Almut und Ruth auch schon dabei. Mir war es wichtig, mit Schauspielerinnen zu arbeiten, die sich für dieses Thema interessieren. Über eine der Kuratorinnen der Performance, Petra Pölzl, habe ich zunächst Ruth kennengelernt, die Jüdin ist. Ruth schlug dann Almut vor, die als Österreicherin die perfekte Mitspielerin war. Beide sind großartig und ich habe mich wahnsinnig gefreut, dass sie Lust und Zeit hatten, mitzuwirken.
Die beiden sehen sich ähnlich, könnten vielleicht Mutter und Tochter sein.
In dieser Arbeit, sowohl als Performance, als auch als Videoinstallation, geht es auch um die Frage der Intergenerationalität. Welche Anteile der Geschichte haben auf welche Art und Weise einen Einfluss auf mein Leben und was mache ich damit? Der Altersunterschied zwischen den beiden Schauspielerinnen war wichtig, um auf diesen Aspekt aufmerksam zu machen. Almut und Ruth sprechen im Text, aber auch mit ihrer Erscheinung alles aus, was gesagt werden soll.
In der Ausstellung in der Gemeinde Köln findest du dann doch auch mit deiner ganz eigenen Perspektive statt. Das Foto von der Einladungskarte ist hinter der Videoinstallation zu sehen. Es zeigt die ehemalige Ärzteführerschule, in der deine Urgroßmutter Nanna Conti unterrichtet hat. Die Fenster des Hauses scheinen bedrohlich rot zu leuchten. Was hat es damit auf sich?
Die ehemalige Ärzteführerschule ist ein Ort, den ich erst im vergangenen Herbst für mich entdeckt habe und mit dem ich mich auch weiter beschäftigen werde. Auf dem Foto sieht man das sogenannte Schloss in der Mitte des Gebäudekomplexes, der aus einigen großen Häusern und einer Parkanlage besteht. Das Rot, das morbide aus den Fenstern dringt, zeigt den Schärfe-Mechanismus meiner Kamera. Etwas, das mir im Laufe meiner Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte immer deutlicher wird, ist, dass ich mich in der Zeit auch immer weiterentwickle, immer wieder neue Informationen und damit neue Perspektiven erfahre – und eben auch immer wieder neue scharfstellen muss.
Wer sich mit der Vergangenheit befasst, kann immer auch etwas über Gegenwart und Zukunft lernen. Wo siehst du in deiner Arbeit die entscheidenden Anknüpfungspunkte?
Das Wichtigste ist für mich das Hinterfragen der eigenen Ideale, Überzeugungen und unterbewussten Handlungsrichtlinien. Woher kommen sie? Und: Erziele ich mit ihnen, was ich möchte? Das mag furchtbar pragmatisch klingen, aber mein Ziel ist es, Dialoge zu ermöglichen. Und um dieses Ziel zu erreichen, halte ich in meiner künstlerischen Arbeit teilweise auch meine eigene Haltung zurück. So öffne ich den Raum für unterschiedliche Betrachtungsweisen.
Sind alle Betrachtungsweisen erwünscht?
Es geht mir nicht um sowas wie “mit Rechten reden”, da ziehe ich eine klare Linie. Ich denke, dass es vielmehr ein Potential gibt, gemeinsam auf empathische Art und Weise darüber nachzudenken und vor allem auch nachzuspüren, was die eigenen Familiengeschichten aus dem Nationalsozialismus heute für uns bedeuten. Wie wollen wir mit ihnen umgehen und was können wir im Privaten und Emotionalen daraus lernen? Zusätzlich zur institutionellen Aufarbeitung der Fakten. Ich bin mir sicher, dass wir durch die Verknüpfung dieser beiden Erinnerungsformen mehr von der Geschichte und unseren Möglichkeiten im Heute erfahren können.
WANN: Die Ausstellung “Chaosmos des Persönlichen” von Lena Ditte Nissen läuft bis Samstag, den 5. März.
WO: Gemeinde Köln, Ebertplatz Laden 7, 50668 Köln.
Die Arbeiten in der Ausstellung sind im Rahmen eines Fellowships am Künstlerhaus Büchsenhausen im österreichischen Innsbruck entstanden.