Der Elefant im Raum
Latefa Wiersch im Dortmunder Kunstverein

8. April 2025 • Text von

Latefa Wiersch inszeniert in autofiktionalen Szenografien grob zusammengeflickte Puppen als Protagonist*innen einer Kindheit und Jugend, geprägt von popkulturellen Einflüssen der 1990er-Jahre und postmigrantischer Erfahrung. In der Ausstellung „Hannibal“ im Dortmunder Kunstverein verbindet die Künstlerin zwei zentrale Orte: die Hochhaussiedlung Hannibal II in Dortmund-Dorstfeld, in der Wiersch aufwuchs, und die Atlas-Filmstudios in Marokko, dem Herkunftsland ihres Vaters. (Text: Anna Marckwald)

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Latefa Wiersch, ‘Original Features‘, Video, 4′ 40”, 2022, exhibition view ‘Hannibal‘, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke.

In Dortmund-Dorstfeld steht ein beeindruckender Gebäudekomplex: Anfang der 1970er-Jahre als utopistischer Sozialbau errichtet, stapeln sich die Stockwerke aus Beton in schier endlosen Terrassen zu acht heute unbewohnten grauen Kolossen. Der Idealismus ihrer Grundsteinlegung, der sich wie vielerorts nie richtig zu erfüllen schien, scheiterte 2017 schließlich endgültig, als Hannibal II wegen zahlreicher baulicher Mängel zwangsevakuiert werden musste. Keine der Investitionsfirmen, durch deren Hände das Areal über die Jahre gegangen war, hatte dieser Entwicklung durch Sanierungsarbeiten entgegenzuwirken gesucht. 

Mehrere Hundert Menschen verloren binnen eines Tages ein Zuhause, das ihnen gleichsam Refugium wie Isolation gewesen war. An die Stelle sozialer Durchmischung und bezahlbaren Wohnraumes war längst ein Phänomen gerückt, das der französische Soziologe Loïc Wacquant in seinem Buch „Die Verdammten der Stadt“ als fortgeschrittene Marginalität bezeichnet: die „sozialräumliche Verbannung und exkludierende Schließung“ eines Teils der Gesellschaft innerhalb der postfordistischen Stadt durch „zweifache Segregation nach Rasse und Klasse“.

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Latefa Wiersch, ‘The German Chapter‘ (Detail), 2024, exhibition view ‘Hannibal‘, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke. // Latefa Wiersch, ‘Hannibal‘, 2025, exhibition view, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke.

Die Wohnsiedlung Hannibal II, die in den 1980er- und 1990er-Jahren den Lebensraum Latefa Wierschs bildete – ihr Aufwachsen und die Erinnerung an dieses prägte, ist nicht mehr zugänglich. Die nach ihr benannte Ausstellung „Hannibal“ im Dortmunder Kunstverein erweckt die verwaiste Architektur nun gewissermaßen wieder zum Leben: Wiersch hat eine ortsspezifische Installation geschaffen, die zwischen Bühnenbild und Diorama, Rückschau und Fiktionalisierung changiert. Sie reinszeniert und reininterpretiert das räumliche Gefüge.

Das großzügig verglaste Gebäude des Kunstvereins hat Wiersch mal konsequent, mal lapidar in Sektionen, in Zimmer, unterteilt. Dystopisch anmutende Puppen bevölkern die neu erschaffenen Räume in unterschiedlichen Konstellationen. In Frankensteinscher Manier aus verschiedenen Stoffen mit groben Nadelstichen zusammengeflickt, evozieren sie unmittelbar Horrorassoziationen. Obgleich ihrer martialischen Materialität wirken Mimik und Gestik vieler Figuren jedoch frappierend echt; präzise in Ausdruck und Emotionalität. Einige fungieren als direkte Doppelgänger*innen der Künstlerin in den unterschiedlichen Phasen ihres Lebens, andere verkörpern ihr soziales und familiäres Umfeld.

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Latefa Wiersch, ‘Hannibal‘, 2025, exhibition view, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke.

Unmittelbar nach Betreten des Ausstellungsraumes begegnen Besuchende einer der Künstlerin im Kindesalter nachempfundenen Puppe. In ein Superheldinnenkostüm gekleidet und auf einem Motorrad sitzend, liest sich die Arbeit „Comeback“ als retrospektives Selbstporträt kindlichen Muts, während „The German Chapter“ ihr auch räumlich einen direkten Verwandten an die Seite stellt: eine männlich gelesene, in Anzug und Krawatte gekleidete Figur, zu deren Füßen ein Stoffelefant liegt und die dem Dortmunder Großvater der Künstlerin entlehnt ist. Dessen einstiger Tätigkeit als Sportreporter entsprechend richtet sich ihr Blick auf eine dritte, zwischen Großvater und Enkelin situierte Puppe, die Turnübungen an einem Klettergerüst ausführt.

Mit dem weiteren Vordringen in die Innenräume der Installation eröffnen sich Folgeperioden in Wierschs Leben und die diese prägenden Diskurse: In einem Bereich, der an ein Jugendzimmer erinnert, scheinen den drei Sängerinnen der ersten deutschsprachigen Schwarzen Frauenband Tic Tac Toe nachempfundene Puppen aus dem Musikfernsehen der 1990er-Jahre in den Privatraum übergetreten zu sein. Gemeinsam mit dem unweit installierten Mobile „Beyond the Circle (About Black Dada)“, das unter anderem eine Miniaturfigur der Avantgarde-Tänzerin Josefine Baker enthält, eröffnet die Arbeit Fragestellungen nach den Zuschreibungen, dem sogenannten Othering nicht-weißer Personen innerhalb der öffentlichen Sphäre wie der Gesellschaft allgemein sowie ihrer gesellschaftlichen Rolle zwischen Vorbildfunktion und Projektionsfläche.

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Latefa Wiersch, ‘Hannibal‘, 2025, exhibition view, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke. // Latefa Wiersch, ‘Tic Tac Toe‘, 2025, exhibition view ‘Hannibal‘, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke.

In der Anfertigung von Puppen als Abbilder des eigenen Lebens und Erlebten findet sich ein Akt der Externalisierung und – wenn man so will – der gezielten Projektion par excellence. Indem Wiersch erlebte Fremd- und Selbstzuschreibungen bewusst ins Außen kehrt, werden sie aus dem diffusen Feld individueller Wahrnehmung in den Bereich des kollektiv unmittelbar Sichtbaren überführt und so explizit. Bereits das frühkindliche Spiel mit Puppen stellt in diesem Sinne eine Form der Erprobung sozialer Normen dar. Statt diese lediglich abzubilden, aktiviert Wiersch in ihrer Arbeit zusätzlich das dem Puppenspiel inhärente transformative Potenzial der Reflexion und Erweiterung von Realität.

Im Obergeschoss des Dortmunder Kunstvereins reist Wiersch mit dieser Methodik im Gepäck noch weiter in die eigene Vergangenheit. Die Stop-Motion-Animation „Original Features“ rekonstruiert die Biografie ihres Vaters, der als Gastarbeiter aus Marokko ins Ruhrgebiet kam, um dort in der Stahlindustrie zu arbeiten. Eine Figur, die an die aktuelle Erscheinung der Künstlerin angelehnt ist, vollzieht die väterliche Migrationsgeschichte gewissermaßen rückwärts und begibt sich auf die Spurensuche nach der eigenen nordafrikanischen Identität.

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Latefa Wiersch, ‘Hannibal‘, 2025, exhibition view, Dortmunder Kunstverein, 2025, Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, Photo: Jens Franke.

Sequenzen, in denen eine dem Vater nachempfundene Puppe auftaucht, durchsetzen Wierschs eigenes Wandeln durch Orte wie Hannibal II und die Atlas-Filmstudios am Stadtrand von Ouarzazate, deutsche wie marokkanische Landschaften. Auf dem Wüstenboden liegend gebiert die Puppe schließlich einen Elefanten: jenes Tier, auf dessen Rücken der für die Dortmunder Wohnsiedlung namensgebende Feldherr einst die Alpen gen Norden überquerte. Und dessen Geschichte Hollywood aktuell wieder neu verfilmt – in den marokkanischen Atlas-Filmstudios.

Latefa Wierschs Ausstellung im Dortmunder Kunstverein ist Reise durch den Prozess individueller wie kollektiver Identitätsfindung. Schicht um Schicht trägt sie ab, gewährt tiefe persönliche Einblicke und fördert dabei ebenso Brüche wie Verbindungen zutage: das Rhizom familiärer, kultureller und räumlicher Einflüsse in der eigenen Biografie und Entwicklung. Keinesfalls jedoch, so scheint es, geht es Wiersch um eine rein autofiktionale Erzählung. Vielmehr demonstriert „Hannibal“ eindrücklich die politische und gesellschaftliche Dimension postmigrantischer Erfahrung.

WANN: Die Ausstellung “Hannibal” von Latefa Wiersch läuft bis Sonntag, den 13. April.
WO: Dortmunder Kunstverein, Rheinische Str. 1, 44137 Dortmund.

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