Da geht ein peyak [Geist] und tanzt im Staub
"La Escucha oder Die Winde" in der ifa-Galerie

19. März 2021 • Text von

In dem Ausstellungsprojekt „La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco“ entführt eine Vielstimmigkeit an Hand- und Kunstwerken die Besucher:innen in eine Szenographie des nordargentinischen Teils des Gran Chaco. Die Kuratorin Andrea Fernández verwischt in der ifa-Galerie Grenzen zwischen Kunst- und Handwerkspraktiken und löst Hierarchien von Autor:innenschaft auf. Ihrer Einladung folgten Akteur:innen aus der institutionalisierten Kunstwelt und Angehörige von sieben Pueblos Originarios um gemeinsame Arbeiten für die Ausstellung anzufertigen. (Text: Asta von Mandelsloh)

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Der Weg durch die Installation von Video- und Klangarbeiten, Radiobeats, Keramiken, Textilien und Zeichnungen ist eine Spurensuche. Unterwegs begegnen einem Dialogfragmente über verschiedene Naturverständnisse und Lebensweisen. Mit der Ausstellung eröffnet die ifa-Galerie Berlin eine Plattform für diverse Stimmen aus der Grenzregion Gran Chaco in Nordargentinien. Als Form ästhetischer Erfahrung und Wissensübermittlung bindet sie diese in die Umwelt-Programmreihe „Untie to tie“ ein.

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Zugegeben, es war ein Zufall, dank dem ich „La Escucha oder die Winde“ in der ifa-Galerie Berlin besuchte. Bis zum Vorabend rechnete ich mit der Ausstellung „Encapsualtion: Forseer of the Past“, die allerdings in Prag installiert und somit nur online einsehbar ist. So kam es, dass mich eine Vielzahl neuer Eindrücke in der Galerie überraschte. Durch bloßes Zuhören und ohne vorauseilende Recherche erschloss ich mir den ersten Zugang. Eine gute Herangehensweise, stellte ich erleichtert fest, denn das Zuhören war grundlegendes Moment in der Erarbeitung der Ausstellung. Wie eine kleine Anekdote der Kuratorin Andrea Fernández im Begleitheft bezeugt, kann einen die voreingenommene Lesart auch auf falsche Fährten locken.

Wir leben mit dem Waldland. Gemalte Schilder des Guaraní-Künstlers Luis Gímenez, aufgestellt in den ursprünglichen Gebieten der Wichí in Tartagal, Salta, Argentinien. © Mariana Ortega (2018)

Das Ausstellungsprojekt begann 2019 in der argentinischen Stadt Tartagal, in der die Kuratorin selbst lebt. Tartagal ist eine Stadt in der Provinz Salta, die wiederum zu Teilen im Flachlandgebiet Gran Chaco liegt. In der Überschneidung von Salta und Gran Chaco leben Angehörige von sieben verschiedenen Pueblos Originarios und viele weitere Menschen unterschiedlicher Herkunft. In der Zusammenarbeit ging es nie um eine reine Produktion von Ausstellungsobjekten. Den Arbeiten lag ein Austausch über individuelle und geteilte, gegenwärtige und vergangene Erfahrungen und Sichtweisen in Verbindung mit dem Gran Chaco zugrunde. Die dabei angestoßenen Themen und Problematiken gehen über das Regionalspezifische hinaus. Alle Beteiligten brachten ihre persönlichen Bezüge zu der Region mit in die Arbeitsgemeinschaften. Angehörige der Pueblos Originarios weisen eine Reihe von Ahn:innen auf, die bereits die Region vor ihnen bewohnten, andere sind erst in der zweiten Generationen da oder selbst Zugezogene, mit europäischen Vorfahr:innen. Der Austausch und besonders das Zuhören seien „unvermeidliche Prozesse der Dekolonisierung“, schreibt Fernández im Begleittext. Davon leitet sich auch der originale Ausstellungstitel ab: Escucha bedeutet frei übersetzt das Hören als Praktik. In der substantivischen Verwendung wird es sogar personifiziert.

Im Waldland. Frau aus der Wichí-Gemeinde sammelt Chaguarpflanzen zur Herstellung von Textilien, Santa Victoria Este, Salta, Argentinien. © Andrea Fernández

Während meines Ausstellungsbesuches wendete ich mich als erstes intuitiv den Keramikarbeiten zu. Denn mir fiel es anfangs schwer, mich in der akustischen Landschaft von sich überlagernden Stimmen und Geräuschen zurechtzufinden. Nach einem ersten Moment der Unbeholfenheit fange ich mich und stelle mir selbstironisch die Frage: Wie kannst du erwarten, dass eine Ausstellung, in der es um ein Neudenken von Narrativen, Erzählstrukturen und Zeitlichkeit geht, Materialien und Medien in ästhetischen Kategorien aufbereitet, in denen du gewohnt bist zu denken?

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Die Hängung der Keramiken an einer erdtonfarbigen Wand entsprach also auf den ersten Blick einem gewohnten Sehmuster: Aus der Ferne erinnerten mich die Tierköpfe an Jagdtrophäen, die in dunklen Räumen auf einen hinabschauen. Das 2019 gegründete Keramik-Kollektiv „Orembiapo Maepora“, das soviel bedeutet wie „Unsere Arbeit ist schön“, setzt für Frauen verschiedener Generationen neue Produktionsimpulse. Die Herstellung von Keramiken ist bei den Chané, einer im Nordosten der argentinischen Provinz Salta lebenden Gemeinde, den Frauen vorbehalten. Sie nehmen Praktiken ihrer Ahn:innen auf, in denen sich ein Wissen verbirgt, das, so heißt es, „die Zeit durchquert und die Vergangenheit rekonstruiert“. Während der Workshops lebten und arbeiteten das Kollektiv und die Künstlerin Florentine Califano zusammen. Von beiden Seiten flossen Produktionsweisen und Formsprachen in die Arbeit mit dem Ton ein. Mit Califanos Hilfe bauten die Chané-Frauen, die ihre Objekte zuvor in der Luft trockneten, einen Ofen. Die Gestaltung der Keramikfiguren orientierte sich an Überlieferungen zu Tieren die früher in der Region lebten, aber durch die Waldrodungen zu großen Teilen vertrieben und ausgestorben waren.

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Wachsendes Vertrauen und Zuneigung, so Califano, veranlasste die Arbeitsgruppe, Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen zu teilen – besonders führte es auch zum Zuhören. Diese vielleicht gar nicht so simple Kommunikation ruft letztlich eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt hervor durch eine Sensibilisierung für die Erfahrungsräume von zuvor noch „Fremden“. Sowohl Califano also auch die Frauen der Chané Gemeinschaft begannen im Austausch miteinander, ihre bisherigen Kunstverständnisse sowie den Sinn ihrer Präsenz in dem Territorium zu hinterfragen. 

Die Kenntnis von der Erde. Alicia Saravia, Chané-Keramikerin aus der Gemeinde Tutiatí, extrahiert Ton für ihre Töpferei. Campo Durán, Salta, Argentinien. © Milagro Tejerina (2019)

Auch in den anderen Arbeitsgruppen zur Ausstellungsvorbereitung liefen jeweilige Sichtweisen, Geschichten, Mythen und Erinnerungen in den Produktionsprozess von Textilien, dokumentarischen Filmessays, Zeichnungen, visuellen sowie akustischen Landschaften ineinander. Studierende, Handwerker:innen, Vermittler:innen, Kunstschaffende, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen ließen sich in ihren Debatten über die Gegenwart und Zukunft von der Frage leiten: „Ist die Natur ein Produktionsmittel oder ein Ganzes, zu dem auch der Mensch gehört?“ 

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Dazu gehörten Gespräche über die Kämpfe um Territorien in der multiethnischen Grenzregion. Die Bebauung ursprünglichen Waldgebietes führte zur Vertreibung ortsansässiger Pueblos Originarios und negierte ihre physische Präsenz. Der Wind, so heißt es, übermittelt ihnen Erinnerungen und Wissen ihrer Ahn:innen und anderer Lebewesen und Lebensformen, die heute nicht mehr sichtbar sind. So bahnen sich alternative Verständnisse von Natur ihre Wege und leisten Widerstand. Manche Pueblos Originarios können diese Geister der Vergangenheit im Wind lesen und übersetzen. Vergangenes und Vertriebenes existiert in anderer Materie in der Gegenwart weiter.

Territorium/Brücke. Filmstill aus: “Territorium” von Brayan Sticks. Brücke über dem Fluss Itiyuro bei Campo Durán, Salta, Argentinien.

Das dokumentarische Film-Essay „Territorium“(2020) von Teilnehmenden des „Ethnic Memory Workshops“ und dem Regisseur Brayan Sticks zeugt von dieser Co-Existenz von Vergangenheit und Gegenwart sowie verschiedener Narrationen. Studierende stellten 2019 auf dem Hauptplatz von Tartagal eine Schlacht zwischen dem argentinischen Heer und Toba Kriegern nach, die vor hundert Jahren stattfand. Im Film greifen verschiedene Versionen desselben historischen Ereignisses ineinander. Die einen bezeichnen das Territorium als eigen, andere als geliehen, wieder andere als besetzt. „Territorium“ verweist auf „unsichtbar gemachte Erinnerung und Geschichte, die nicht in den Gründungsbüchern der argentinischen Nation enthalten ist“. Die Handlung bezieht sich auf ein historisches Ereignis aber die Bilder, Kleidung und Hintergrund, zeigen uns die Gegenwart. Die Filmarbeit läuft auf drei versetzt installierten Bildschirmen. Die Sequenzen laufen zeitlich ebenfalls versetzt ab. Durch die Installation überträgt sich die narrative Stimmenüberlagerung in den Raum der Galerie. Film und Kuration brechen mit einer zeitlich und räumlich linearen Erzählstruktur. So entsteht eine neue Erzählung und mit ihr das Erkennen und Anerkennen anderer Narrative.  

Territorium/Kreuzungen. Filmstill aus: “Territorium” von Brayan Sticks. Brücke über dem Fluss Itiyuro bei Campo Durán, Salta, Argentinien.

Ein paar Tage nach der Ausstellungsbesichtigung stolpere ich vor dem Supermarkt in einen Verkäufer der „Arts of the Working Class“. Der Artikel „Troubling the Perception of Indigeneity“ schärft meinen Blick auf den Film nachträglich. Darin ist die Rede von Prozessen der Unterwerfung indigener Kosmogonien und Zeitlichkeit durch koloniale temporäre Regime. Die Autor:in fragt danach, welche Narrative ausbleiben, wenn zeitliche Linearität die einzige verfügbare Orthodoxie ist. “Was wäre, wenn Kunstwerke versuchen würden, einen dialogischen Raum zu besetzen, anstatt einer rein linearen Zeit?”

Ausstellungsansicht “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco.”, 2020, ifa-Galerie. Foto: Victoria Tomaschko.

Ich bin aus der Ausstellung nicht mit dem befriedigenden Gefühl gegangen, eine neue Sichtweise verstanden zu haben. Im Gegenteil, diesen Artikel zu schreiben brachte mich in große Verlegenheit. Ich weiß immer noch nicht, wie ich all die Eindrücke und Stimmen, denen ich in der ifa-Galerie begegnete, gleichwertig aufnehmen und wiedergeben könnte. Aber so interpretiere ich auch nicht das Anliegen hinter der Ausstellung. Stattdessen kann der Besuch einen Prozess anstoßen, „das sehen zu lernen, was vorher für uns nicht wahrnehmbar war“. So schreibt die Kuratorin, ging es ihr und den verschiedenen Beteiligten, als sie den Arbeitsprozess anstießen. Während meine Gedanken die folgenden Tage immer wieder zu den Ausstellungswerken und ihrer gemeinschaftlichen Herstellung schweifen, webe ich die Überlegungen darüber in vieles ein, was ich danach lese und sehe. Die neugewonnenen Einblicke in Lebensumstände und Natur- und Umweltverständnisse in einem Teil Nordargentiniens, die mich nun fortan begleiten, zeigen mir aufs Neue: Die Weise, wie ich lebe, konsumiere und lerne greift unweigerlich über meine unmittelbare Umgebung hinaus. Die freigelegten Verbindungen ermöglichen es mir, mich selbst wieder in einem größeren Ganzen zu sehen. In einer Zeit in der „die Vögel schon nicht mehr aus Erde waren und der Himmel geschmolzen (Freie Interpretation von Botschaften der Winde, die von Juan de Dios López überliefert wurden. Aus dem Ausstellungsbegleitenden Booklet).

Titel zitiert aus dem Booklet “La Escucha oder die Winde. Berichte und Spuren aus dem Gran Chaco. Rafael Karsten “Los indios tobas del Chaco boliviano” (1993).

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 18. April 2021.
WO: ifa-Galerie Berlin, Linienstraße 139-140, 10115 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin