Schwarze Existenzen in der Polykrise
"An Overture of Grief and Joy" im Kunstverein Braunschweig

24. Januar 2023 • Text von

In der Remise des Braunschweiger Kunstvereins können Besucher:innen die zweite von drei Phasen der Wechselausstellung „An Overture of Grief and Joy“ betrachten. Die einzelnen Phasen bilden netzwerkartige Verbindungen untereinander und zu den gleichzeitig ablaufenden Krisen. (Text: Nils Gloistein)

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Gespräch mit Christa Joo Hyun D‘Angelo, 11.01.23. Links: Benedikt Johannes Seerieder (Kurator), Rechts: Christa Joo Hyun D‘Angelo. Photo: Gloria May.

Ein kritischer Literaturtisch und Nina Emges Soundarbeit „Mixtape 3“, in der die Künstler:in persönliche und politische Ereignisse der letzten drei Jahre akustisch verarbeitet, begrüßen die Besucher:innen im Foyer des kleinen Hauses des Braunschweiger Kunstvereins. Marcela Moragas mit Wolle bestickte Filz- und Leiterplatten verbinden traditionelle Filzkunst mit dem Innenleben von Computern und setzen so den Konflikt  zwischen Neokolonialismus und indigenen Völkern ins Bild. Die beiden Arbeiten fungieren als Hinleitung zu und Rahmen für die zwei zentralen Werken der zweiten Phase der Ausstellung.  

Bei diesen handelt es sich um Ligia Lewis „deader than dead“(2020) sowie Christa Joo Hyun D’Angelos „Protest and Desire“(2019). Beide Filme stellen die Lebensrealitäten Schwarzer Existenzen ins Zentrum ihrer ästhetischen Aushandlungen. Die zwei Leinwände für die Videoinstallationen nehmen Moragas Werken die Luft zum Atmen, sie wirken als Beigabe.

Besucher:innen müssen die Filme selbst per Kippschalter starten. So entsteht eine Verbindlichkeit zwischen Werk und Betrachter:in. D‘Angelos Neonskulptur „Mouth to Mouth“ verstärkt diesen Effekt zusätzlich, indem sie die Worte „My Silence Is Your Comfort“ gelb in den abgedunkelten Raum hineinleuchtet. Werke und Raum erhöhen die Bereitschaft zuzuhören.

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An Overture of Grief and Joy, 2022, Christa Joo Hyun D’Angelo, Mouth to Mouth, 2022. Exhibition view Kunstverein Braunschweig 2022. Courtesy: die Künstlerin.

„Protest and Desire“ ist alles andere als schweigsam. Der Film wird zu Beginn und Ende von Texttafeln gerahmt, im Mittelpunkt steht eine Awareness-Beraterin für HIV und Rassismus. Mal im Off, mal als Talking-Head berichtet sie über ihren Alltag als Schwarze, HIV-Positive, mittelalte Frau in Berlin. Sie verknüpft unter anderem Sexualität, Rollenbilder, Sexismus, Rassismus, Spiritualität und Kolonialismus in einem Monolog miteinander. D’Angelos Film findet eine narrative Balance zwischen prägnanten Aphorismen und brüchiger Narration.

Bildlich alterniert der Film zwischen zwei Ebenen. Blüten, Lebkuchenherzen, Teddybären und Mannequins stehen auf der einen Seite. Sie versinnbildlichen etwa Gefühle der Fremdheit, Aspekte des Postkolonialismus und verschränken sie mit der Identitätsentwicklung der Protagonistin. Als wiederholt eingesetztes Motiv werden die Blüten zur Leitmetapher des Films. Allerdings sind sie kaum mehr als bloße Illustration des in der finalen Texttafel geäußerten Diktums, sich nicht von sozialen Kategorien definieren zu lassen.

Hauptmotiv der zweiten Ebene ist die erzählende Frau selbst. Zuerst ist sie in ihrer Wohnung zu sehen, dann auf der Straße, fast permanent in Großaufnahme. Allerdings verlässt der Film sie zu oft zugunsten der ersten Bildebene, sodass kein empathisches Mit-Sein entsteht. Auch perspektivisch lässt sich mit den Bildern wenig anfangen. Weder geben sie Einblick in die subjektive Binnenperspektive der Frau, noch nehmen sie eine objektivierende Außenperspektive ein. So verirrt sich der Film etwas zwischen seinen zentralen Setzungen.

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Christa Joo Hyun D‘Angelo, Protest and Desire, 2019. 4K Video, 19:55 Min., Videostill. Courtesy: die Künstlerin.
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Christa Joo Hyun D‘Angelo, Protest and Desire, 2019. 4K Video, 19:55 Min., Videostill. Courtesy: die Künstlerin.

So diskursiv wie „Protest and Desire“, so körperlich wirkt „deader than dead“. Aufgrund der Pandemie hat Ligia Lewis ihre gleichnamige Modern-Dance-Performance kurzerhand filmisch dokumentiert. Darin sind vier Schwarze Menschen zu sehen, die sich in einem sterilen, fensterlosen Keller auf einem sonnenblumengelben Rechteck wiederfinden. Ihre Gesichter sind von Masken verdeckt, ihre Körper scheinen von unsichtbaren Kräften an die weiße Wand gepresst zu werden.

Sie winden sich, sie taumeln und kollabieren schließlich auf der Matte. Gesang und Musik reanimieren sie. Im stampfenden Rhythmus finden sie zusammen. Aus der Gemeinschaft schöpfen sie die Stärke, nach vorne zu treten und Forderungen zu skandieren, nur um vor Erschöpfung erneut umzufallen. Sie sind aber nicht tot, sondern schleppen sich zum rettenden Ufer der weißen Wand.

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LIGIA LEWIS deader than dead, 2020 Mixed-Media-Performance dokumentiert auf HD-Video, Farbe, Ton, 19:39 Min. / Mixed media performance documented on HD video, color, sound, 19:39 min. Installation Video Still. Video Courtesy: die Künstlerin / the artist.

Die experimentelle Choreografin Ligia Lewis ist als Regisseurin stilsicher. Bis zu vier Split-Screens geben ihrer Performance eine Multiplizität der Perspektiven – Intersektionalität als Mise en Abyme. Die Split-Screens kollidieren im Schnitt mit einer strengen Totale, die dank Obersicht und Zentralperspektive den klaustrophobischen Filmraum körperlich spürbar macht.

Dazwischen bewegt sich eine Handkamera mit geringer Tiefenschärfe. Zu Beginn verschwinden die Tänzer:innen oft in ihrer Unschärfe. Die Handkamera bleibt aber interessiert; sieht mehr von den Individuen, mehr vom Kollektiv. Im Moment der kollektiven Rebellion wird die Kamera selbst zur Performerin: Sie springt auf, sie kreist um die Körper, rotiert um die eigene Achse. Diese Inszenierung lässt sich als Politisierungsprozess lesen. So Politik ästhetisiert und Ästhetik politisiert. Lewis‘ Videoarbeit „deader than dead“ ist für ihre Inszenierung und interpretatorische Offenheit zu loben, die über eine kritische Thematisierung hinausgeht. Ohne Worte macht der Film gegenderte Unterdrückungsmechanismen Schwarzer Körper audiovisuell erfahrbar.

Obwohl es durch die Platzierung im Foyer etwas untergeht, gibt Emges „Mixtape 3“ allen drei Ausstellungsphasen einen aktuellen zeitgeschichtlichen Bezug. Moragas Textilarbeiten dienen als diskursive Anknüpfungspunkte zu den beiden Filmen und ergänzen die Ausstellung. In dieser Ausstellungssituation interagieren die beiden Hauptwerke von Ligia Lewis und Christa Joo Hyun D’Angelo miteinander wie zwei menschliche Gehirnhälften. Die eine Seite arbeitet abstrakt-analytisch, während die andere räumlich und bildhaft vorgeht. Beide Seiten – Analyse und Ästhetik – sind notwendig, um mit der Polykrise umzugehen.

WANN: Die zweite Phase der Ausstellung “An Overture of Grief and Joy” läuft bis Dienstag, den 31. Januar. Die dritte Phase beginnt am Mittwoch, den 1. Feburar, und ist bis Sonntag, den 29. Februar zu besuchen.
WO: Remise des Kunstvereins Braunschweig, Lessingplatz 12, 38100 Braunschweig.

Diese Ausstellungsbesprechung ist im Rahmen eines von Mira Anneli Naß und Radek Krolczyk im Wintersemester 2022/23 geleiteten Praxisseminars zu Kunstkritik im Master Kunstwissenschaft und Filmwissenschaft der Uni Bremen entstanden.