Große Gefühle und kleine Skandale Das Kunstmuseum Wolfsburg wird 30
27. Juni 2024 • Text von Carolin Kralapp
Das Kunstmuseum Wolfsburg feiert sein 30-jähriges Jubiläum mit einer großen Schau: In 15 Kapiteln zu Themen wie Freiheit, Identität und Gleichberechtigung zeigt “Welten in Bewegung” zeitgenössische und historische Perspektiven und Dialoge über gesellschaftliches Zusammenleben, individuelle Geschichten und globale Umbrüche. Wackelnde Hühnchen, Sexpuppen, Bondage-Techniken und Demonstrierende treffen hier in der Ausstellungshalle aufeinander.
Das Kunstmuseum Wolfsburg ist (wie ich) ein Kind der 90er Jahre. Im Mai 1994 feierte das Haus seine große Eröffnung. 30 Jahre später, 2024, gibt es erneut Grund zum Feiern. Als etablierte Institution weit über die Grenzen Wolfsburgs hinaus gibt die große Jubiläumsausstellung “Welten in Bewegung. 30 Jahre Kunstmuseum Wolfsburg” neue Einblicke in die eigene, rund 1000 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst. Einige neue Schenkungen werden erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ausstellung zeigt insgesamt 172 Werke unterschiedlichster Medien – von Fotografie und Video bis hin zu Installationen, Malerei und Kupferstich. Den zeitgenössischen Positionen werden 15 historische Werke aus dem Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig gegenübergestellt.
In 15 Kapiteln widmet sich die Ausstellung zeitlosen und lebensnahen Themen, individuellen Geschichten, globalen Umbrüchen und großen Phänomenen. Die Kapitel umfassen Weltbilder, Familienangelegenheiten, Natur, Zukunftsvisionen, Wirtschaft, Geschlechterfragen und mehr. Die Vielfalt der Themen im Kunstmuseum wird durch eine lange Liste von Künstler*innen ergänzt, darunter Nobuyoshi Araki, Benedikte Bjerre, Sophie Erlund, Cindy Sherman, Tony Cragg, Lucas Cranach d. Ä., Andreas Gursky, Pieter Hugo, Bruce Nauman, Michel Majerus, Jonathan Meese, Nam June Paik, Neo Rauch und Erwin Wurm – um nur einige zu nennen.
Den Auftakt bildet das Kapitel “Raumwunder”. Beim Eintreten durchstreifen die Besucher*innen die Installation “The space is where you’ll find it” von Michel Majerus. Räume sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens und mit ihnen gehen unterschiedliche Raumerfahrungen und Raumgefühle einher. Majerus’ Installation erzeugt ein kurzes Gefühl von Enge und Verwirrung, für einen Moment scheint man sich in den geschwungenen Formen zu verlieren – ein Tunnel, der den Weg in die großzügige Ausstellungshalle des Museums freigibt. Das Raum- und Körpergefühl spielt hier eine große Rolle. So testet auch Bruce Nauman seinen Körper, lotet das Verhältnis von Wand und Boden aus, und in einer von Erwin Wurms “One Minute Scultpures” können die Besucher*innen kurzerhand selbst Teil eines Kunstwerks werden und sich auf den Möbeln der Installation platzieren.
Weiter geht’s mit Identitätsfragen, Körpersprache und persönlichen Familiengeschichten. Historische und zeitgenössische Werke thematisieren Vergänglichkeit und Sterblichkeit: von Kaisern, die als Götter verehrt wurden, bis hin zu Stars aus Film und Musik, die zum Beispiel Elizabeth Peyton in farbenfrohen Malereien verewigt hat – darunter der junge Prince Harry in der Westminster Abbey.
Besonders spannend ist die Gegenüberstellung von Cranach d. Ä.’s Venus-Darstellung aus den 1530er Jahren und Arakis Werkserie “Tokyo Novelle”, in der die japanische Bondage-Technik “Kinbaku-bi” ästhetisch an verschiedenen Körpern dargestellt wird. Ergänzt wird dies durch Cindy Shermans “Sex Pictures”, in denen sie eine Puppe in vermeintlich pornografischen Szenerien platziert. “Sex sells“ scheint hier das Motto zu sein. In der nur wenige Schritte entfernten Fotoserie “Ray’s Laugh” von Richard Billingham gewährt der Künstler einen sehr intimen Einblick in sein eigenes Leben und Aufwachsen, das nicht weiter von einer idealen Familienidylle entfernt sein könnte. Alkohol, Armut, Chaos und Zigaretten dominieren hier das Zusammenleben mit dem alkoholkranken Vater.
Lebendig und turbolent geht es in den Kapiteln “Unter Leuten” und “Formen der Natur” weiter. Ute Behrends Fotografien zeigen wilde Knutschereien, schlafende Mädchen und eine Pistole im Dekolleté – in roher, melancholischer Bildsprache fangen sie Geschichten des Erwachsenwerdens ein und beschreiben das manchmal verwirrende Sich-Zurechtfinden in der Gesellschaft. Jeff Koons lässt einen überdimensionalen Plüschbären einer Polizistin die Pfeife klauen und stellt damit gesellschaftliche Rollen auf den Kopf.
Mario Merz‘ spiralförmiger Tisch, gedeckt mit Reisig, Obst und Gemüse, erinnert uns an unsere Lebensgrundlage: das Essen. Währenddessen watscheln unzählige Hühner-Ballons durch den Ausstellungsraum – Benedikte Bjerres “Lisa’s Chicken” – ein absoluter Publikumsmagnet und das perfekte Fotomotiv für Instagram. Unter den zarten Füßchen der Ballons verbergen sich die beliebtesten Frauennamen, die symbolisch für alles stehen, was “dem Weiblichen” zugeschrieben wird.
Auch der Regionalbezug darf bei einer Jubiläumsschau nicht fehlen: So gibt es Arbeiten mit Wolfsburg-Referenzen zu entdecken, etwa im Kapitel “Urbanes Leben”. Dort sieht man in einem Foto von Douglas Gordon einen unheimlichen Anhalter mit dem Schild “Psycho”, der vergeblich auf eine Mitfahrgelegenheit in der leeren Wolfsburger Innenstadt hofft. Im Kapitel “Wirtschaftsgipfel” darf Volkswagen natürlich nicht fehlen – die neue Schenkung “Dreiakter” von Thomas Schütte beleuchtet die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens.
Im Kunstmuseum Wolfsburg werden – wie der Titel “Welten in Bewegung” es schon vermuten lässt – ganze Welten und breite Themenkomplexe aufgemacht, die noch in unzähligen weiteren Strängen weitererzählt und vertieft werden könnten. Wer in diese Welten eintauchen möchte, muss sie sich ansehen. Doch hält die Ausstellung das, was sie verspricht: sie öffnet unterschiedliche Perspektiven auf gesellschaftliche Themen, denen wir uns nicht entziehen können, weil sie unser aller Leben beeinflussen. Es beginnt im Kleinen, in den eigenen vier Wänden und im Zusammenleben mit der Familie und endet im großen Ganzen, in den globalen und wahnsinnig komplexen Fragen, die Naturphänomene, technische Innovationen und Wirtschaftssysteme mit sich bringen.
WANN: Die Ausstellung “Welten in Bewegung” läuft noch bis zum 4. August.
WO: Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg.
Alle Besucher*innen, die 1994 und somit in diesem Jahr entweder noch 30 Jahre alt werden oder bereits geworden sind, erhalten über die gesamte Laufzeit freien Eintritt in die Ausstellung “Welten in Bewegung. 30 Jahre Kunstmuseum”. Auch die Öffnungszeiten wurden verlängert: das Museum öffnet von Dienstag bis Freitag bereits ab 10 Uhr.