Ein Satz aus Licht und Körper Kunsthalle Wien: "Burn The Diaries, Read Them Out Loud"
25. Juni 2025 • Text von Gast
Zwischen Körper und Sprache entsteht Resonanz. Die Kunsthalle Wien stellt mit der Ausstellung „Burn The Diaries, Read Them Out Loud“ das Schreiben als Kunst in den Mittelpunkt. Texte werden zu Orten, Stimmen zu Gesten. Lesbarkeit, Widerständigkeit und poetische Präsenz entfalten sich räumlich. Wir stellen die eindrücklichsten Positionen vor. (Text: Leonore Spemann)

Bücher empfangen Besuchende der Kunsthalle Wien am Karlsplatz wie alte Bekannte mit Stimmen, die separat lesbar sind und doch gemeinsam einen Chor des Widerstands, der Erinnerung und des Aufbegehrens formen. So gibt sich gleich zu Beginn der Ausstellung ein mehrstimmiger Raum zu erkennen. Text ist hier nicht nur Medium, sondern Haltung und eine Gegenthese zur Flüchtigkeit. „Burn The Diaries, Read Them Out Loud“, kuratiert von Gina Merz, ist eine Ausstellung, die das geschriebene Wort in Bewegung versetzt. Künstler*innen aus aller Welt nähern sich Text in geschriebener und gesprochener Form als Spur, Reibungsfläche und Dialogmöglichkeit an.
Im Foyer zeigt sich die erste von insgesamt drei raumstrukturierenden Gesten von Ian Waelder: ein schlichter Deckenventilator, zwei MDF-Sockel, darauf Bücher von Prosopopoeia, einem Projektraum für textbasierte Kunst in Wien. Werke wie Ghislaine Leungs „Bosses“, Ariana Reines’ „Wave of Blood“ oder Enzo Traversos „Gaza im Auge der Geschichte“ sind hier mehr als „Entertaining Ideas“ – so der Titel der Arbeit. Sie sind Impulse, Widerhaken und Ankerpunkte.

Gleich neben den Büchern werden Plakate mit Zitaten der kanadischen Dichterin Lisa Robertson präsentiert. Die Grafikdesignerinnen Elisabeth Rafstedt und Johanna Ehde bilden das Rietlanden Women’s Office und haben die Poster entworfen. In ihrer künstlerischen Praxis beschäftigen sie sich mit aktuellen und historischen Themen im Zusammenhang mit oft reproduktiver Arbeit und kollaborativem Grafikdesign. Die Plakate verweisen auf feministische Übersetzungspraktiken und machen Randnotizen sichtbar.
Das sonst Paratextuelle rückt hier ins Zentrum, also die Anteile, die zu einem Text dazugehören, aber nicht direkt Bestandteil des eigentlichen Textes sind und oft unsichtbar bleiben. Flüstern, Schreie und hin und wieder Gesang lassen sich im Raum vernehmen. Sie sind Relikte einer Performance von Ville Laurinkoskis, die im Rahmen der Eröffnungszeremonie stattgefunden hat.

An einer anderen Stelle im Ausstellungsraum verengt ein unpersönlicher Arbeitsplatz den Weg. Das Werk von Anahita Asadifar tritt in Form eines Schreibtischs, eines Bildschirms und eines Paars Kopfhörer in Erscheinung. Zitate von Audre Lorde, bell hooks, Claude Cahun und Susan Sontag treten hör- und auf dem Monitor sichtbar in einen assoziativen Dialog. Es entsteht ein Netz aus Stimmen, das Erinnerung und Erfindung miteinander verwebt. Der Schreibtisch wirkt wie ein Ort der Arbeit, der Forschung oder der heimlichen Selbstermächtigung.
Joshua Leons gelb getönte und handbemalte Glasplatten sind eingefasst in die zweite Geste Waelders: eine Holzfassade, die das Licht, das von dieser Seite in den Raum fällt, ansonsten komplett abschirmt. Die Konstruktion taucht einen Teil des Raums in ein sanftes Gelb – die Farbe der Wärme, der Heiterkeit, des Aufbruchs. Waelders Holzkonstruktion spielt mit dem sich über den Tag verändernden Lichteinfall in dem ansonsten sehr exponierenden Glaspavillon der Kunsthalle. Die leise Intervention entfaltet überraschend viel Wirkung.

Im Zentrum des Hauptraums steht ein weiterer, in diesem Fall sehr langer Sockel von Waelder, der gleichzeitig als Display und Objekt dient – seine dritte Geste. Indem er sich zwar ganz überschauen lässt, aber nicht gleich ganz begreiflich dasteht, ist der Sockel wie ein überlanger Satz angelegt. Der Quader drängt sich so nah an die lange Wand, dass ein schmaler Korridor entsteht zwischen ihm und der Wandinstallation von Sanna Helena Berger.
Bergers Installation setzt sich aus 76 verschiedensprachigen Ausgaben von Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ zusammen. Alle ziert das immer gleiche Coverbild, ein bekanntes Still aus Michael Hanekes Verfilmung. Der Text verschwindet hinter der Wiederholung des Bildes. Berger nennt die Arbeit „Schmutztitel“, ein bibliografischer Begriff, der eine doppelbödige Lesart als Schutzfläche und zugleich als Angriffspunkt nahelegt.

Ein auf Waelders langem Sockel platzierter Kopierer spuckt in regelmäßigen Abständen eine von Miriam Stoney verfasste oder entworfene Seite aus. Wie ein sich fortschreibendes Journal ermöglicht die Arbeit Einblicke in das, was die Künstlerin aus der Ferne mitzuteilen hat, und bezeugt zugleich den Verlauf von Zeit. Stoney ist abwesend, ihre Gedanken sind jedoch ständig neu präsent. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in dem Titel der Arbeit, „Missing“, wider. Die zum Vorschein kommende, fragmentierte Erzählung, die sich nicht abschließen lässt, entfaltet ihre Dringlichkeit durch ebendiese Eigenschaft.
Atem, Klang und Melodie sind die wichtigsten Akteure in Lara Dâmasos Videoarbeit „exercise in facelessness (domestic)“, die auf den überlangen Sockel projiziert wird. Sie zeigt ein Gesicht und die Rückansicht eines nackten Körpers, zu dem das Gesicht gehört. Die körperlichen Gesten changieren zwischen Intimität und Selbstauflösung. Der Körper spricht, die Stimme denkt.
Ganz am Ende des Ausstellungsraumes ragt eine Skulptur aus Textilien empor. Die Gruppe Shanzhai Lyric überträgt poetische Forschung zur chinesischen Shanzhai-Kultur unperfekt und anti-heroisch auf T-Shirts. Shanzhai bedeutet „Bergfestung“. Die „Fake“-Logos kehren fragmentierte Gedichte zu Wahrheit um. So ruft das Werk im Kontext des Zusammenspiels aus Skulptur und Aufschriften ein passendes Bild für die Kleidungsstücke als Widerstandsnester gegen den Druck des Originals und der Selbstoptimierung hervor.

Auch die Außenfassade des Glaspavillons der Kunsthalle Wien ist Teil des Ausstellungsdisplays. Eleanor Ivory Weber hat dort einen LED-Schriftzug installiert. Die Arbeit trägt den Titel „Smoking is good“ – einer von vielen wechselnden, ironischen Kommentaren wie „Eleanor is good“ oder „Eleanor is bad“, die hier aufleuchten. Weber macht sich die semantischen Leere der Werbewelt zu eigen. Slogans, so vertraut wie banal, besetzen den öffentlichen und den digitalen Raum und versuchen sich im Kampf um Aufmerksamkeit stets zu übertrumpfen. Diesem Wettbewerb setzt die Künstlerin irritierende Aussagen entgegen, die für das Wahrnehmen dieser Worthülsen sensibilisieren.
Die Gruppenausstellung „Burn The Diaries, Read Them Out Loud“ dient als poetische Erinnerung daran, dass Worte, Gedanke und Gesten von viel größerer Bedeutung sein können, als einem im Zustand des allgemein wahrnehmbaren Unbehagens, indem sich viele Menschen derzeit befinden, bewusst sein mag. Sie macht unmissverständlich deutlich, dass Wörter und Körper in einem reziproken, dynamischen Verhältnis stehen. Sprache ist körperlich verwurzelt, körperlich vermittelt und wirkt auf Körper zurück. In jedem Gespräch, jedem Gedicht, jedem inneren Monolog zeigt sich: Der Körper spricht – und die Sprache hat einen Körper. Jedes Wort zählt. Jedes Schweigen auch. Sprache ist kein flüchtiges Mittel, sie ist ein Ort. Ein Körper. Und: Sie vergisst nicht.
WANN: Die Ausstellung “Burn The Diaries, Read Them Out Loud” läuft bis zum 19. Oktober.
WO: Kunsthalle Wien – Karlsplatz, Treitlstraße 2, 1040 Wien, Österreich.