Alles im grünen Reich Über die Magie des Kunstausfluges am Beispiel Schloss Derneburg
23. Mai 2024 • Text von Lara Brörken
Es liegt ein Zauber in der Luft, wenn zwischen Feldern und Wiesen plötzlich ein Schloss am Horizont auftaucht. Eine kindliche Freude über diese überraschende Opulenz breitet sich unwillkürlich aus. Und wenn dann noch eine etwa 4 m große Erwin Wurm-Gurke im Hof steht, spielt die Fantasie komplett verrückt. Diese Kunstorte im vermeintlichen Nirgendwo sind magisch und ein wunderbares Beispiel dafür ist das Schloss Derneburg, ein alles andere als bescheidenes Kunst-Reich!
Eine Allee beugt sich scheinbar knarzend über die Landstraße, links ein Feld, rechts ein kleines Waldstück. Wind, Vogelgezwitscher, die Sonne bricht durch die Wolken. Fenster auf, Radio lauter und der Blick schweift in die leicht hügelige, weiche Weite. Schon länger kein Haus mehr gesehen, geschweige denn einen Menschen. Eine saftig grüne, heile Welt und zu allem Überfluss kommt am Ende der Straße dieser prächtige Koloss zum Vorschein: das Schloss Derneburg. Große Augen, offene Münder, pah! Fliege reingeflogen. Wie kann es so idyllisch sein? Es ist beinahe frech.
Und der eigentliche Grund für offene Münder kommt ja erst noch! Denn vor und hinter den Schlossmauern in 96 Räumen verbirgt sich eine beeindruckende Kunstsammlung, eine wohlkuratierte Mischung aus Dauer- und Sonderausstellungen, die dafür sorgen, dass Namen wie Per Kirkeby, Nan Goldin, Jörg Immendorff, Alicja Kwade, Jenny Holzer, Erwin Wurm, Norbert Schwontkowski, Georg Baselitz, Chantal Joffe, Danica Lundy, Jörg Immendorff, Joseph Beuys, Tony Tasset und unzählige weitere zusammenkommen.
Besonders hervorzuheben ist in dieser Reihe der Name Baselitz, denn er war es, der das beinahe Tausend Jahre alte Schloss, das die meisten Jahrhunderte als Kloster diente, 1970 kaufte und für 36 Jahre zu seinem Wohnsitz und Atelier machte. Bei einem Besuch eines befreundeten und gleichzeitig eines der international bedeutendsten Sammlerpaare, den Halls, verkaufte er neben 120 seiner Werke spontan auch das ganze Schloss.
Der US-Broker Andrew J. Hall und seine Frau Christine können sich das leisten. Ihnen gefiel die Idee, dass Baselitz‘ Werke dortblieben und ihre circa 6000 Arbeiten umfassende Sammlung endlich den Platz findet, den sie braucht. Mit Rohölhandel, dem Leiten eines milliardenschweren Hedgefonds und innovativen Investmentstrategien hat das Paar ein unbekannt großes Vermögen angehäuft.
2007 gründete das Paar die Hall Art Foundation und arbeitet seither daran, in Derneburg eines der größten öffentlich zugänglichen privaten Museen zu schaffen. 2012 eröffnete das Paar den zweiten Ausstellungsort Lexington Farm, einem alten Bauernhaus in Vermont und setzt sich für die Förderung junger Schwarzer Kunstschüler*innen ein und legte hierfür einen 1,5 Millionen Fond für begabte Schüler*innen der Alexander W. Dreyfoos School of the Arts in West Palm Beach, Florida an.
Es ist wahr, dass die Werke in diesen Gemäuern eine irre Wirkung entfalten. Der schwere und kühlende Stein, die alten Kachelöfen, die holzvertäfelten Wände, all das wirkt sich auf Besucher*innen aus, kühlt sie ab und wärmt sich einen Raum weiter wieder auf. Mit den ersten Schritten in das Schloss gehen sie auf die Ausstellung “The Passion” zu und werden von einem dunklen Kreuzgang eingesogen, gelockt von Dan Attoes leuchtendes Neon “Stop Being Such a Fucking Baby”. Eine Jesusfigur in weißem Gewand deutet unter dem Schriftzug voraus, schubst die, die sich angesprochen fühlen mit den Worten: “just go”. Den Gang entlang folgen Cola Dosen, die Tony Tasset zu einem Kreuz angeordnet hat, eine Werkreihe Joseph Beuys, mit der er die Heilsgeschichte und die Frage danach, was eigentlich christliche Symboliken ausmacht, verhandelte.
Auch Francesco Clementes “For an History of Women” wird ausgestellt. Es zeigt einige Nonnen in blaugrauen Gewändern schwebend und die Hände betend zusammenhaltend, während auf und neben ihnen Titel von Psychopharmaka stehen wie beispielsweise Xanax, Prosac oder Ritalin. Am Ende des Kreuzganges beeindrucken sieben fast vier Meter große Wachskreuze, deren sieben stählerne Gussformen im Innenhof stehen und Positiv- und Negativform elegant mit Innen- und Außenraum verklammern. Wachs und Rost werfen dabei Fragen nach Beständigkeit und Stabilität des Christentums auf. Schmilzt es bald dahin? Eine erfrischend mutige Dauerausstellung, die den Kreuzgange gekonnt konfrontiert.
Der Skulpturengarten ist ein Paradies, man kann es nicht anders sagen. Selbst Skulpturenskeptiker*innen werden weich, wenn Kenny Scharfs an Computerspiel und Comic erinnernde vertikale Objekte, die wie eine freundliche Marterpfahlversion neben den uralten Holzsäulen colorbomben. Wenn Jeppe Heins Spiegelkabinett nichts von der sie umgebenden Schönheit vorenthält oder auf der anderen Seite irgendwo auf dem 85.000 m2 großen Gelände zwischen Stallungen und Schlossmauer, zwei in Golf-Manier, aber doch auch super reduziert, funktionslos und außerirdisch erscheinende Autos von Julian Opie parken. Es wirkt beinahe, als würden die Kleinwagen flirten. Der Frühling wirkt sich aus.
Neben Frühlingsgefühlen kann einem hier aber auch der Atem stocken. Zum Beispiel vor dem Anblick der 700 schwarzen Figuren, die einen ganzen Raum besiedeln. Jede besteht aus den gleichen 29 quadratisch rechteckigen Einzelteilen, die mit jeder Figur anders zusammengesetzt wurden. Antony Gormleys Installation “Sleeping Field” ist von dem Türrahmen aus zu erfahren, was eine wirkungsvolle Distanz schafft. Die Einzigartigkeit und doch Gleichheit der Figuren, ihre raumfüllende Masse erinnert an eine Armee. Ihnen haftet etwas Uniformiertes und Mechanisches an, obwohl sie bei genauerem Hinsehen Dehnübungen zu machen scheinen. Es könnte auch die Studie eines Menschen im Park sein, der alle fünf Minuten seine Gliedmaßen an andere Stelle legt, sich neu positioniert, um dem “pins and needles”-Gefühl zu entgehen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Spaß und Ernst, sobald viele zusammenkommen.
Der Blick schweift voller Gedanken an und über Menschenmassen aus dem Fenster in das satte Grün. Es beruhigt kurz und dann der Schreck. Tracey Emins Bronze liegt schwer im Gras, als wäre sie von genau hier oben hinuntergestürzt. Diese Momente machen den Kunstausflug Derneburg aus, der Bruch in der Idylle gibt ihm Substanz. Hier ist ein gewisser Mut zu spüren, das Aalglatte, das Reiche, das Mächtige mit einem Moment des Schocks und auch des Humors zu konfrontieren.
Das wird es sein, was flapsig gesagt Kunst in der Pampa so magisch macht: Du erwartest sie hier nicht. Die Großstadt ist weit weg, die Gedanken sind beeinflusst von schreienden Hähnen, von grüner Weite und Fliegen im Mund, und da knallt die Kunst dann mit voller Wucht. Der Derneburg-Effekt erinnert an Orte wie den Tarot Garten in der Toskana, der am Rande einer unasphaltierten Straße auftaucht wie eine Oase. Niki De Saint Phalle und ihr Mann Jean Tinguely schufen diesen 1998 eröffneten geheimnisvollen Ort. Ein zwei Hektar großes Gelände regiert von funkelnden Nanas, mysteriöser Tarotkarten- Symbolik und kinetischen knarzenden Objekten. Bekannter mittlerweile auch das E-Werk Luckenwalde und natürlich auch der von Gaudí gestaltete Park Güell in Barcelona.
Obwohl dieser Text schon lang war, wird er der Menge an qualitativer Kunst, die im Schloss Derneburg wohnt, kaum gerecht. Also nehmen Sie ein Stück von dem opulenten Kuchen, fahren Sie über die A7, Abfahrt Derneburg oder hüpfen sie am Bahnhof Derneburg aus dem Regio erx RE10, das Ziel ist nicht zu übersehen, versprochen!
WANN: Alle Ausstellungen sind samstags und sonntags von 11-17 Uhr geöffnet.
WO: Kunstmuseum Schloss Derneburg, Schlossstraße 1, 31188 Derneburg.