Kunst und die Klassenfrage
"Not Working" im Kunstverein München

30. Oktober 2020 • Text von

Der Kunstverein stellt das Verhältnis von künstlerischer Produktion und sozialer Klasse ins Zentrum der aktuellen Ausstellung. Die inhaltliche Auseinandersetzung der gezeigten Werke legt den Finger in die Wunde der sich reproduzierenden sozialen Ungleichheit im Kunstbetrieb und appelliert, den Klassenbegriff neu zu betrachten.

Zu sehen ist die Arbeit Blumensprengungen von Annette Wehrmann, die Teil von Not Working – Künstlerische Produktion  und soziale Klasse im  Kunstverein München ist.
Annette Wehrmann, Blumensprengungen (detail), 1991-95, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Warum eine erneute Betrachtung des Klassenbegriffs aktuell so wichtig ist, erschließt sich aus seiner Verwobenheit mit den virulent diskutierten, englischen Begriffen „Gender“ und „Race“. Klasse ist den Kategorien von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht nicht nur inhärent, sondern diese beiden stellen selbst bestimmende Elemente von Klassenverhältnissen dar. Die Gruppenausstellung “Not Working” mit Angharad Williams, Annette Wehrmann, Gili Tal, Guillaume Maraud, Josef Kramhöller, Laura Ziegler und Stephan Janitzky, Lise Soskolne, Matt Hilvers und Stephen Willats untersucht die gegenseitige Bedingtheit von künstlerischer Produktion und sozialer Klasse. 

Ausstellungsansicht Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.
Ausstellungsansicht Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Die Ausstellung versammelt aber nicht dezidiert aktionistische oder politische Werke, sondern versteht sich als diskursöffnend und präsentiert eine Reihe sehr unterschiedlicher internationaler Perspektiven, in denen der Klassenbegriff verhandelt wird. Der Titel der Ausstellung dient dabei in seiner Mehrdeutigkeit als selbstironischer wie kritischer Verweis auf die oft verherrlichte Prekarität, die der Figur des*r Künstlers*in und ihren Arbeitsbedingungen innewohnt. Der Kunstverein rückt die Wichtigkeit, ein Bewusstsein für die Bedingungen künstlerischer Produktion zu schaffen außerdem mit einem umfassenden Reader und Filmprogramm ins Zentrum der Auseinandersetzung.

Installationssansicht Laura Ziegler und Stephan Janitzky in Not Working – Künstlerische Produktion  und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian  Kissel.
Installationssansicht Laura Ziegler und Stephan Janitzky in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

„Wer heute ein Kunststudium absolviert, wird das eigene Scheitern weniger einem Mangel an Talent oder unzureichender unternehmerischer Einstellung anlasten“, schreibt Lise Soskolne im “Not Working”-Reader, „sondern vielmehr einem System, das auf weißer Vorherrschaft und dem Heteropatriarchat sowie auf beider müheloser Reproduktion durch den neoliberalen Kapitalismus fußt.“ Die kanadische Künstlerin ist Mitbegründerin von Working Artists and the Greater Economy (W.A.G.E.) und seit 2012 Hauptorganisatorin der Gruppe in New York, die sich für verbindliche, institutionell anerkannte Tarifregelungen für Künstler*innen und damit für die Etablierung von nachhaltigen wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb des Kunstbetriebs in den USA einsetzt. 

Lise Soskolne, Characters, 1999, in Not Working – Künstlerische Produktion und  soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian  Kissel.
Lise Soskolne, Characters, 1999, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Soskolne ist in der Ausstellung nicht nur mit einem Essay vertreten, sondern ebenso mit einer großen Leinwand mit dem Titel „Characters“ von 1999, die einem Bildschirm nachempfunden ist und einen Ausschnitt des Filmabspanns des Dramas „Nichts als ein Mensch“ von 1964 zeigt. Auch in ihrer malerischen Praxis geht Soskolne vor allem den Politiken der Sichtbarkeit, Arbeitsbedingungen und Geschlechterverhältnissen nach und so ergänzt sie im gemalten Filmabspann weitere Personen, die zwar zu sehen, aber nicht namentlich genannt waren.

Angharad Williams bei ihrer Performance im Münchner Hofgarten
Angharad Williams, Nobody wins, 2020, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Mit Josef Kramhöller, Laura Ziegler und Stephan Janitzky versammelt die Ausstellung in München arbeitende Künster*innen ebenso wie Werke von Angharad Williams, die aus der aktuellen Thematik vor Ort entstanden sind. Williams Arbeitsweise bewegt sich zwischen Skulptur, Installation, Schreiben und Malerei, wobei die Vielzahl von Medien durch ihre Praxis als Performerin verbunden ist. In der Ausstellung hängen Fotografien und ein Nadelstreifenanzug mit vertrockneten Blumen in den Taschen auf einem Kleiderbügel an der Wand.

Angharad Williams Maßanzug Installationsansicht Kunstverein München
Angharad Williams, My First Suit (detail), 2020, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Die Referenz zu Joseph Beuys‘ „Filzanzug“ von 1970 ist überdeutlich. Unter dem Stichwort soziale Plastik spielt der Anzug direkt auf die vornehme Umgebung und das damit verbundene gesellschaftliche Umfeld des Kunstvereins sowie seiner Ein- und Ausschlussmechanismen an. Stellt sich natürlich die Frage, inwiefern man sich eine bestimmte soziale Klasse einfach anziehen kann, verrät einen nicht meist ein klassenspezifischer Habitus? Williams setzte sich jedoch nicht ins nahegelegene Schumanns, sondern bewegte sich in der dokumentierten Performance bei Nacht, angezogen mit dem Maßanzug, über öffentliche Plätze im Münchner Stadtzentrum und pflückte Blumen aus den öffentlichen Parkanlagen und Blumenkästen, so lange bis sie aufgehalten wurde. 

Matt Hilvers zehnteilige Videoskulptur im Kunstverein München
Installationsansicht Matt Hilvers, Decadance, 2009-2019, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Von dem amerikanischen Künstler Matt Hilvers ist eine zehnteilige Videoskulptur zusammen mit einer Glasvitrine, in der unzählige Arztrechnungen zu sehen sind, präsentiert. Die Handyvideos nahm der Künstler einmal pro Jahr über ein Jahrzehnt hinweg von sich selbst auf. Der jeweilige Schauplatz ist immer ein anderer, aber meist zugleich sein Arbeits- und Wohnraum, durch den sich Hilvers tanzend hindurchbewegt. Der Künstler verdeutlicht die realen Bedingungen seines Arbeitsplatzes – allzu oft als romantische Vorstellung eines Künstlerateliers verklärt – sowie seiner eigenen künstlerisch-technischen Produktion.

Film still von Matt Hilvers Video Decadance zeigt den Künstler tanzend in seinem Wohnraum bzw. Arbeitsraum
Film Still: Matt Hilvers, Decadance, 2009-2019, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.; Foto: Sebastian Kissel.

Auch die Veränderung des eigenen Körpers über zehn Jahre dokumentiert Hilvers, dessen teils freie oder klassische Tänze seinen Körper als lebendigen, chaotischen und öffentlichen Verhandlungsraum inszenieren. Erfahrungen von Krankheit sind ebenfalls in seinen Körper eingeschrieben, die sich über die zur Arbeit gehörenden medizinischen Rechnungen nachvollziehen lassen. Die Unversehrtheit von Körpern ist bei Hilvers immer auch eine Frage von Privileg beziehungsweise Prekarität. Unbezahlte Rechnungen, Mahnungen und Zahlungserinnerungen an absurd hohe Beträge resultierend aus einem gewinnorientierten US-amerikanischen Gesundheitssystem geben Auskunft, wie sehr der Körper von der Abwesenheit öffentlicher Strukturen gezeichnet ist.

Installationsansicht Guillaume Maraud
Guillaume Maraud, “12.09. – 22.11.2020“ Public consultation, 2020, in Not Working – Künstlerische Produktion und soziale Klasse, Kunstverein München, 2020. Courtesy Kunstverein München e.V.. Foto: Sebastian Kissel.

Dass eine formal-ästhetische Sprache immer auch in Bezug auf soziale Herkunft und ökonomische Zusammenhänge gelesen werden kann, ist eine These der Ausstellung, die dem nun geöffneten Diskurs bedarf. Dass aber die inhaltliche Auseinandersetzung der gezeigten Künstler*innen in Zeiten der Pandemie genau den Finger in die Wunde der sich verschärft reproduzierenden sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft wie im Kunstbetrieb legt, ist viel wichtiger.

WANN: Die Ausstellung ist noch bis Sonntag, den 22. November zu sehen.
WO: Kunstverein München e.V., Galeriestr. 4  (Am Hofgarten), 80539 München.

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