Kunst hinterm Eisernen Vorhang
Geta Brătescu in der Hamburger Kunsthalle

11. Juni 2016 • Text von

La mulți ani und Ehre, wem Ehre gebührt! Nach Louise Bourgeois, Eva Hesse und Gego, folgt in der Reihe Gegenwartskünstlerinnen nun: Geta Brătescu, die Grande Dame der konzeptuellen Kunst Rumäniens. Anlässlich ihres 90. Geburtstags richtet die Hamburger Kunsthalle die erste umfassende Retrospektive außerhalb ihres Heimatlands aus.

Geta Brătescu: Autoportret cenzurat [Zensiertes Selbstporträt], 1978, Collage auf Papier, 31 x 20,5 cm, Kontakt. The Art Collection of Erste Group and ERSTE Foundation, Foto: Ștefan Sava.

Geta Brătescu: Autoportret cenzurat [Zensiertes Selbstporträt], 1978, Collage auf Papier, 31 x 20,5 cm, Kontakt. The Art Collection of Erste Group and ERSTE Foundation, Foto: Ștefan Sava.

Das Werk der in Bukarest lebenden Künstlerin ist vor allen Dingen eines: vielschichtig. Und viel gibt es auch in der Menge zu sehen. Mehr als 80 Schlüsselwerke aus über sechs Jahrzehnten kann man in der Hamburger Kunsthalle bestaunen. Sie bedienen sich unterschiedlichster Medien – von Zeichnung über Fotografie und Film, bis hin zur Skulptur. Von kleinteilig bis raumgreifend, von abstrakt bis gegenständlich ist alles dabei.

Der kundige Betrachter mag an vielen Stellen geneigt sein, Bezüge unterschiedlichster Art herzustellen, sei es zur Minimal Art, zu Naumann oder eben zu Louise Borugeois. Gleichermaßen wichtig zu bedenken sowie von zentraler Rolle in nahezu jeder einzelnen Arbeit ist jedoch der historische Kontext. Brătescus künstlerisches Schaffen hat die längste Zeit durch den eisernen Vorhang, abgeschottet von der Kunstwelt des Westens im sozialistischen Rumänien, stattgefunden. 

Geta Brătescu: Magneți în oraș [Magnete in der Stadt], 1974, Fotomontage, 51,5 x 72,5 cm, Collection of MNAC - National Museum of Contemporary Art, Bucharest, Courtesy of the artist and Ivan Gallery Bucharest, Foto: Ștefan Sava.

Geta Brătescu: Magneți în oraș [Magnete in der Stadt], 1974, Fotomontage, 51,5 x 72,5 cm, Collection of MNAC – National Museum of Contemporary Art, Bucharest, Courtesy of the artist and Ivan Gallery Bucharest, Foto: Ștefan Sava.

Den großen Stellenwert der Geschichte übersetzt die Künstlerin durch die Arbeitsweise der Schichtung und des Übereinanderlegens. Eigene Erinnerung und geschichtliche Einordnung finden ihren Ausdruck in Ablagerungs- und organischen Wachstumsprozessen. Die Vergangenheit ist von der Ebene des Jetzt zwar überdeckt, doch lässt sie sich noch erahnen und kann ungebrochen Wirkung entfalten.

Da ist zum Beispiel das 40-teilige Werk „Memory“, dessen monochromatische Dunkelheit sinnbildlich für die als düster und repressiv empfundene Zeit des sozialistischen Regimes steht. Die Arbeiten bestehen aus geschichtetem Papier, das durch Risse und Lagen an manchen Stellen beinahe den Charakter wettergegerbter menschlicher Haut erhält. Aus der Distanz wirkt „Memory“ wie eine gleichförmige Ansammlung von Dunkelheit. Beschäftigt man sich jedoch ein wenig intensiver mit den einzelnen Bestandteilen der Arbeit, entdeckt man subtile Unterschiede – wie bei einer Reihe von schlechten Tagen, die sich im Gedächtnis jedoch als Einheit einprägen.

Geta Brătescu: Regula cercului, regula jocului [Die Regel des Kreises, die Regel des Spiels], 1985, Collage, Tempera, Gouache, Bleistift auf Papier, 68 x 45 cm, Kontakt The Art Collection of Erste Group and ERSTE Foundation, Foto: Ștefan Sava.

Geta Brătescu: Regula cercului, regula jocului [Die Regel des Kreises, die Regel des Spiels], 1985, Collage, Tempera, Gouache, Bleistift auf Papier, 68 x 45 cm, Kontakt. The Art Collection of Erste Group and ERSTE Foundation, Foto: Ștefan Sava.

Eine andere Werkserie widmet sich der Medea. Von der Stärke und Intensität einer der wohl streitbarsten Frauenfiguren der griechischen Mythologie war Brătescu zutiefst beeindruckt. Die Serie zeugt von ihrem fundierten und detaillierten Wissen. Kurz zur Erinnerung: Medea verließ für einen Mann ihre Familie. Er widmete sich nach einiger Zeit aber lieber der korinthischen Königstochter. Um an ihm Rache zu nehmen, brachte sie nicht bloß ihre gemeinsamen Söhne sowie seine Tochter um – der Nebenbuhlerin schenkte sie ein vergiftetes Kleid. Brătescu hat diesen gemeinhin weniger bekannten Aspekt der Geschichte mit ihrer eigenen verknüpft, indem sie eine Serie aus Stoffen gefertigt hat, welche sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Es ist nur eine der vielen Arbeiten an der die hinterfragende Beschäftigung Brătescus mit dem Selbst sichtbar wird. Brătescus Schaffensgeschichte ist fortwährend gekennzeichnet durch Bezüge auf ihre eigene Biografie: Man kann ihre Präsenz in den Werken nahezu spüren. Mal sind es Kleinigkeiten, wie das Preisgeben ihrer bevorzugten Zigarettenmarke, mal formale Aspekte, etwa dass die Künstlerin stets ohne Assistenz arbeitet.

Geta Brătescu: Alteritate, 2002/2011, Fotografie, 9-teilig, je 50 x 50 cm, © courtesy of the artist, Ivan Gallery und Galerie Barbara Weiss, Foto: Aurora Kiraly.

Geta Brătescu: Alteritate, 2002/2011, Fotografie, 9-teilig, je 50 x 50 cm, © courtesy of the artist, Ivan Gallery und Galerie Barbara Weiss, Foto: Aurora Kiraly.

Brătescu selbst versteht sich vor allem als eine Zeichnerin im Dienst der Linie. Ihre farbenfrohen Papiercollagen begreift sie als ein „Zeichnen mit der Schere“, Arbeiten aus Stoff als „Zeichnungen mit der Nähmaschine“. Doch nicht nur mit ungewöhnlichem Material zeichnet Brătescu. An einer Stelle ist eine Serie von Zeichnungen zu sehen, die sie mit geschlossenen Augen angefertigt hat. Werke wie diese belegen nicht nur ihre hohe Kunstfertigkeit, sondern auch die große Neugier der Künstlerin. In neuen abstrakten Werkserien, den so genannten „Cut Outs“, richtet sich ihr Interesse auf die Relation von Linie zu Fläche. Brătescu dekliniert diese in der ihr eigenen unermüdlichen und gründlichen Art zu zahllosen Modulationen. So hat sie beispielsweise zwei Leporellos aus buntem Papier geschaffen, deren Linien durch Risse entstanden sind.

Fazit: Selten so viel Freude an Form und gründliche Wertschätzung auch des einfachsten Materials gesehen. Einfach? Gut. Und in jedem Fall sehenswert.

WANN: Die Geta Brătescu Retrospektive läuft noch bis zum 7. August. 

WO: Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, 20095 Hamburg

 

Für Füchse: Die Jungen Freunde der Kunsthalle bieten am 17. Juni und 05. August Führungen durch die Ausstellung an. Die Erfahrung sagt, das lohnt! Hier geht’s lang.

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