Kein Atelierbesuch "Studio Visit" in der Stiftung Binz39
5. September 2025 • Text von Anja Grossmann
Die Ausstellung “Studio Visit” in der Binz39 ist kein Atelierbesuch im eigentlichen Sinn. Denn die Ateliertüren, die an den Ausstellungsraum im Zürcher Sihlquai 133 grenzen, bleiben verschlossen. Die Gruppenschau ist das Ergebnis künstlerischer und kuratorischer Auseinandersetzungen mit dem Studio als Produktionsort, Gemeinschaftsraum und Lager.

„It’s always summer and the sky is blue”, zu Deutsch: „Es ist immer Sommer und der Himmel ist blau”. So lautet der Titel einer Wandarbeit von Gilles Jacot. Beim Betreten des Ausstellungsraums der Stiftung Binz39 in Zürich fällt sie als erstes in den Blick. Es handelt sich um eine Alu-Dibond-Platte im Hochformat. Darauf zu sehen ist die Fotografie eines modern eingerichteten Wohnraums mit Sitzecke. Geöffnete Balkontüren lassen warmes Licht von außen auf die Couchecke im hellen Innenraum fallen. Die Szenerie erscheint einladend. Durch das Fehlen persönlicher Gegenstände wirkt das Interieur allerdings etwas zu steril, um einem tatsächlich bewohnten Apartment zu entsprechen. Der Werktitel unterstreicht den Eindruck der Künstlichkeit.
Das abgebildete Wohnzimmer wirkt wie aus einem Werbekatalog. Tatsächlich nutzt Jacot für seine Arbeiten Werbetafeln, die Bauunternehmen an Baustellenabsperrungen anbringen, um das dahinter entstehende Immobilienobjekt anzupreisen. Der Künstler entfernt die darauf gesetzten Logos oder Schriftzüge, nutzt nur die kahl geschorene Fotografie. Auf Jacots Bildern sind computergenerierte Wohnungen zu sehen, die zum Kauf noch imaginärer Immobilien anregen sollen. Ein Wohntraum, dem das Leben fehlt und der sich von der Hoffnung auf unendliche Sonnenstunden nährt.

Jacots Arbeit verhandelt eine Verschränkung von fiktiven und realen Räumen. Der Künstler überzieht die gefundene Bildtafel mit einem feinen Netz aus Textil und erweitert die Arbeit mit subtil gesetzten malerischen Gesten. Das vorgefundene Material wird also erst im Atelier zum fertigen Kunstwerk. Das Studio ist der Produktionsort von Jacots Arbeiten. Die darauf sichtbaren Fotografien machen deutlich, dass auch dieser Raum von Prozessen der Gentrifizierung bedroht sein kann.
Arbeits-, Wohn-, Produktions- und Ausstellungsraum fallen für Kunstschaffende in vielen Fällen zusammen. Dies wird auch in den Räumlichkeiten der Stiftung Binz39 gelebt. Hier arbeiten die sieben aktuellen Stipendiat*innen der Stiftung in jeweils einem Atelier. Der offene breite Flur, an den die Ateliertüren angrenzen, wird als Ausstellungsraum genutzt. Zwischen den öffentlichen Präsentationen ist er leer. Dann wird er zum Zwischenraum, zum Ort für Flurgespräche oder zur Lagerfläche. Die aktuell hier gezeigte Ausstellung „Studio Visit“ thematisiert diesen Raum und bespielt ihn mit Kunstwerken, die wiederum selbst Raumnutzungen thematisieren.

„Die Stiftung Binz39 hat sich zur Aufgabe gemacht, Kunstschaffenden Räume für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Denn Kunst braucht Raum und Raum braucht Kunst“, erklärt Kuratorin Julia Künzi im Gespräch mit gallerytalk.net das Anliegen des Stiftungsgründers Henry L. Levy. Diesen Gedanken wolle sie gemeinsam mit Co-Kuratorin Johanna Vieli in eine Ausstellung übersetzen. Das Moment des Studios sei in jeder der gezeigten künstlerischen Arbeiten wiederzufinden, wenn man sich auf die Suche danach begebe. In der Ausstellung versammelt sind Werke von Julie Becker, Francesco de Bernardo, Gilles Jacot, Morag Keil, Rafal Skoczek und Tamara Vepkhvadze.
Vepkhvadze versteht das Studio vor allem als Lagerort. Sie sammelt Holzteile, die sie auf der Straße, im Sperrmüll, am Rand von Baustellen oder Schuttablageplätzen findet. In ihrem Studio fügt sie das Material neu zusammen und arrangiert es zu Skulpturen, deren Ästhetik von den abgenutzten Oberflächen des Materials lebt. Bringt Vepkhvadze ihre Arbeiten in den Ausstellungsraum, verändern sich die Objekte erneut. Ob es sich um eine Wand-, eine Bodenarbeit oder eine frei stehende Plastik handelt, entscheidet die Künstlerin vor Ort. In ihrem Portfolio schreibt sie, dass alle Gegenstände ihrer Auffassung nach ihren eigenen Platz hätten und dass sie als Künstlerin ständig auf der Suche danach sei.
Vepkhvadzes Arbeiten sind formalästhetische Setzungen, die ohne Titel auskommen. In der Binz39 zeigt sie Holzplanken mit Löchern und Nägel und einen Gehstock, aus dem ein Silikonschlauch wächst. Eine getackerte Naht wird zum Muster. Spuren von Witterung und Abnutzung entfalten malerische Qualität. Nach der Ausstellung wird sie die Arbeiten wieder auseinandernehmen und das Material erneut in ihrem Studio verwahren, bis daraus neue Skulpturen entstehen.

Im hinteren Teil des Ausstellungsraums der Binz39 steht ein Raum im Raum. Es handelt sich um eine Installation aus rot gestrichenem Holz. Mit diesem „Red Shelf“, einem roten Regal, installiert Rafal Skoczek einen Buchladen. Hier steht ein Ausstellungskatalog von Louise Bourgeois neben Simone de Beauvoirs „Das Alter“. Die ausgestellten Bildbände über Kunst, politische Literatur und klassische wie aktuelle Romane laden zum Blättern ein. Treppenstufen bieten sich als Sitzgelegenheit dafür an. Ein kleiner Innenraum der Installation zeigt weitere Bücher in Kisten und einen QR-Code zum Bezahlen.
Unter dem Namen gora gora books sammelt, präsentiert und verkauft Skoczek seit 2020 Bücher mit Bezug zu künstlerischen und gesellschaftlichen Fragen. Der installative Präsentationsort ist eine exakte Nachbildung der architektonischen Struktur, die bis Januar dieses Jahres in der Friedensgasse 1 in Zürich stand. Gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden hatte Skoczek einen ehemaligen Friseursalon über Monate besetzt und zu einem öffentlichen Raum umfunktioniert. Die Friedensgasse 1 wurde Bibliothek, Kino und Ausstellungsraum in einem. Die Idee war, eine Infrastruktur bereitzustellen, damit andere sie nutzen können. Diese Idee verfolgt Skoczek auch mit seiner Arbeit „Red Shelf“. Der Abdruck des besetzten Orts wird in der Binz39 zum Buchladen.
Die Stiftung Binz39 wurde 1983 gegründet, um Kunstschaffenden Freiräume anzubieten, indem sie Atelieraufenthalte und Austauschprogramme ermöglicht sowie einen Ausstellungsraum zur Verfügung stellt. Die hier präsentierte Gruppenschau „Studio Visit“ zeigt Arbeiten, die verschiedene Studiopraxen verhandeln. Unter anderem wird das Studio als Luxusgut, als Lagerort und als Gemeinschaftsraum präsentiert. Die Ateliers bleiben geschlossen. Dennoch wirkt das Atelier als Arbeitsort, der sich in den darin entstandenen Arbeiten ausdrückt.
WANN: Die Ausstellung „Studio Visit“ ist bis Samstag, den 20. September, zu sehen.
WO: Stiftung Binz39, Sihlquai 133, 8005 Zürich.