Sehnsucht nach Nippon Ymane Chabi-Gara bei Kamel Mennour
12. Januar 2023 • Text von Teresa Hantke
Detailverliebt verarbeitet Ymane Chabi-Gara die Eindrücke ihrer Zeit in Japan auf großformatigen Gemälden. Diese sind momentan bei Kamel Mennour in Paris zu sehen. Anlässlich ihrer Ausstellung sprechen wir mit der Künstlerin über eine ihrer schönsten Erfahrungen in Japan und welche Stadt es sich dort wirklich zu besichtigen lohnt.
An einem kühlen regnerischen Nachmittag im Januar treffen wir die Künstlerin in einer Pariser Bar zum Gespräch. Mit froher, lachender Stimme antwortet sie auf unsere Fragen und erzählt begeistert von ihren Erfahrungen im Land der aufgehenden Sonne.
gallerytalk.net: Deine Einzelausstellung “Un petit morceau d’étoffe violette”, die noch bis Ende Januar bei Kamel Mennour zu sehen ist, zeigt Werke, die hauptsächlich während deiner Zeit in Japan entstanden sind. Was begeistert dich an diesem Land?
Ymane Chabi-Gara: Die Kultur Japans fasziniert mich – die Musik, die Kunst und die Sprache hat, wie ich finde, einen sehr schönen Klang.
Wie ich gelesen habe, sprichst du sogar Japanisch?
Das Sprechen ist mittlerweile bisschen schwierig (lacht), aber Lesen geht nach wie vor gut.
Wie bist du mit der Kultur zum ersten Mal in Berührung gekommen?
Über die Musik. Ich habe einen japanischen Pop-Künstler entdeckt – eigentlich ist das nicht wirklich meine präferierte Musik – aber so nach und nach bin ich weiter in diese Welt reingerutscht. Ich war in entsprechenden japanischsprachigen Foren unterwegs, um neue Musik zu finden. Daraufhin habe ich “Math-Rock” entdeckt, ein Musikstil, der seine Wurzeln im Rock, Punkrock und Jazz hat. Neben einer Szene in den USA und England existiert auch eine in Japan, die wirklich gut ist. Um in den Foren auch zu verstehen, was die Personen schreiben und kommentieren, habe ich begonnen, japanisch zu lernen. Das war der Beginn.
Japan finde ich ein sehr einzigartiges Land – den Zusammenstoß von Tradition und Moderne habe ich bisher kaum woanders in dieser Form erlebt. Was war die größte Eigenart oder das größte Faszinosum, das du dort erlebt hast?
Ich bin eine sehr introvertierte Person, weshalb mir der auf Respekt basierende Umgang in der japanischen Gesellschaft durchaus gefallen hat. Die Menschen sind höflich zueinander, jedoch hat auch alles glatt zu laufen. Auf der einen Seite ist das gut, auf der anderen Seite führt es aber auch zu einer echten Isolation. Die Leute können sich kaum so ausdrücken, wie sie es wünschen. Mit meinen Freunden haben wir natürlich privat auch über ernstere Themen gesprochen, die man ansonsten nicht ansprechen würde. Manchmal habe ich hier das Gefühl, dass die Leute sich sehr schnell öffnen – das will ich nicht verurteilen, jedoch wird sehr viel Intimes preisgegeben. Das passiert natürlich auch durch die sozialen Medien.
Du hast eine ganze Serie gemalt zum Phänomen des “Hikikomori”. Übersetzt heißt das “sich einschließen” oder “gesellschaftlicher Rückzug”. In Japan werden damit Menschen bezeichnet, die sich in der Regel freiwillig in ihrer Wohnung einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Wie oder wo bist du zum ersten Mal auf dieses Phänomen gestoßen?
Durch Zeitungsartikel habe ich davon erfahren. Hikikomori hat mein Interesse geweckt, ich habe begonnen zu recherchieren und Artikel, Studien und Dokumentationen dazu zu sammeln. Als ich aus Japan zurückkam und mich auf mein Abschlusszeugnis für das fünfte Jahr vorbereitete, fand ich all diese Dateien auf meinem Computer wieder. Eigentlich hatte ich vor, in Japan meinen Abschluss zu diesem Thema zu machen; jedoch dort angekommen, gab es so viele andere Eindrücke, dass ich schlicht nicht mehr darüber nachgedacht habe.
Zu welchem Abschluss-Thema hast du dich in Japan entschlossen?
Meine Diplomarbeit dort habe ich über Butoh geschrieben. Butoh bezeichnet einen Tanz, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan entstanden ist. An meiner Uni in Tokyo hatten wir Zeichenkurse, in denen wir Butoh-Tänzer, die direkt vor uns tanzten, zeichnen sollten – das war schlicht unglaublich. Teilweise erscheint es, als ob die Tänzer aus ihren Körpern herauskommen, sie winden sich am Boden, schreien, es ist wirklich intensiv. Ich empfehle die Videos von Tatsumi Hijikata der Butoh-Tänze auf Youtube! Außerdem hatte ich Bücher des Autors Yukio Mishima gelesen, der befreundet war mit Hijikata, einem der Begründer des Tanzes. Diese Verbindung von Schönheit und Brutalität in der Literatur und im Tanz hat mir gefallen!
Das klingt beeindruckend. Weißt Du mehr über die Entstehung dieses Tanzes?
Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch eben Hijikata und Kazuo Ono ins Leben gerufen. Japan hat seine Niederlage nach dem Krieg schwer akzeptieren können. Das muss für die Gesellschaft eine Schande gewesen sein, verloren zu haben. Mit dem Tanz wollte man die Scham, die Schande und den Schock der Bombardierungen des Krieges ausdrücken. Auch weil in der Gesellschaft die Leute nicht darüber sprechen. Es wird erwartet, dass man weitermacht, wieder aufbaut und über die Vergangenheit schweigt. Butoh bringt den Aspekt von Verlust zum Ausdruck.
Die Videos werde ich mir ansehen! Gab es eine bestimmte Form von malerischer Technik, die du während deiner Zeit in Japan lernen wolltest?
Vor allen Dingen wollte ich Techniken kennenlernen, die hier an der Beaux-Arts in Paris nicht angeboten werden. Dazu zählte Holzschnitt, wie zum Beispiel das berühmte Bild von Katshushika Hokusai “Die große Welle vor Kanagawa”.
Deine großformatigen Malereien wie eben die Hikikomori-Serie zeichnen sich durch eine wahnsinnige Detailgetreue aus – vor allem begeistern mich die sorgfältig gemalten Bücher und Stifte in “Hikikomori 10”. Letzten Monat habe ich eine Ausstellung von Sam Szafran in der Orangerie hier in Paris gesehen. Szafran malte ebenfalls sehr kleinteilig. Woher rührt diese Liebe für das Detailgetreue?
Es ist lustig, dass du Sam Szafran ansprichst. Vor meinem Studium habe ich eine Serie von Gemälden mit Philodendren gemalt, die auch in den Bildern von Szafran vorkommen. Vor kurzem habe ich erst festgestellt, dass die Serie stilistisch seinen Werken ähnelt. Nach dem Malen dieser feingliederigen Blätter habe ich erst begonnen die einzelnen Objekte, die in meinen Malereien vorkommen, so detailliert darzustellen.
Um nochmal auf Japan zurückzukommen – welche Tipps würdest du weitergeben, wenn man sich dorthin auf eine Reise begibt?
Absolut beeindruckt hat mich die Stadt Matsumoto. Damals bin ich eher zufällig dort gelandet, weil ich ein Konzert besuchen wollte. Dort gibt es die Burg Matsumoto, ein aus Holz gefertigter Bau, der zurück geht auf die Sengoku-Zeit. An einem bestimmten Punkt in der Geschichte brannte man alle Schlösser und Burgen ab und baute neu. Diese Burg ist jedoch erhalten und es lohnt sich, sie zu besuchen. Außerdem stammt Yayoi Kusama aus Matsumoto, weshalb das Matsumoto City Museum of Art viele Werke von Kusama besitzt. Es ist fast so wie der Schatz der Stadt – die Eindrücke aus Matsumoto gehören zu den schönsten Souvenirs, die ich mitgenommen habe!
WANN: Die Ausstellung “Un petit morceau d’étoffe violette” läuft noch bis einschließlich Samstag, den 28. Januar.
WO: Kamel Mennour, 47 rue Saint-André-des-Arts, 75006 Paris.