Die Diktatur der Kunst ist möglich Ein Übersetzungsversuch
29. April 2021 • Text von Christina-Marie Lümen
Jonathan Meeses Kunst ist bekannt für Provokation und starke Gesten. In seinen Arbeiten figurieren Dracula, Drachen und Dr. No, in früheren Performances salutierte der Künstler als Hitler. Nicht zuletzt in seiner derzeitigen Ausstellung in der Galerie Sies + Höke in Düsseldorf propagiert Jonathan Meese die “Herrschaft der Kunst” und fordert “Alles für die Kunst”. Nicht als Utopie, sondern als alternative Gesellschaftsorganisation. Eine pragmatisch-künstlerische Betrachtung.
Jonathan Meese verkleidet sich gerne. Als Indianer, Außerirdischer, auch als Hitler: “Für mich ist Kunst ein Rollenspiel, und man darf jede Rolle annehmen.” Entsprechend zeigt seine neue Ausstellung “AMAZONENGOLD de LARGE” in der Galerie Sies + Höke zahlreiche Masken. Maske, dieses Wort, welches im letzten Jahr eine so neue Bedeutung erhalten hat. Für Jonathan Meese bedeutet die Maske Schutz, Anonymität und Spiel, vor allen Dingen Spiel. “Hinter den Masken findet etwas statt, ein Rollenspiel, das man durch die Maske präsentieren kann. Kunst ist Spielzeug, und wir sind Spielzeug der Kunst. Die Kunst benutzt uns, und wir müssen alles benutzen, um weiter zu kommen.”
In der Ausstellung spielen Pokemon mit Fabelwesen der antiken Mythologie, Walther Benjamins Angelus Novus mit Vampir und Glückskatze. Für Jonathan Meese sind dies – Spielzeuge. Und Kämpfer für die Kunst. Allen Figuren haftet etwas Verwundetes an, sie sind geschunden, unperfekt. “Alle diese Figuren sind Wächter des Schatzes, und so müssen sie die Feinde auch abwehren. Deshalb haben Sie Narben, es sind Kämpfer der Kunst. Sie kämpfen gegen die Realität, gegen das, was nicht Kunst ist. Es sind Figuren voller Liebe, die etwas verteidigen, wie die Künstler:innen, die vorne sind, um die Kunst mit Herzblut zu verteidigen.” Es geht um alles. Jonathan Meese und seine Vorkämpfer sind Teile des Gesamtkunstwerks, des Gesamtkunstwerks Deutschland und der Welt. Schritte in einem sich entfaltenden Prozess. Obacht: Jonathan Meese plant nicht die Diktatur der Kunst, er möchte, kann sie nicht implementieren. Hier spricht kein Diktator: “Kunst ist das freie Spiel. Aber das Spiel wird falsch definiert. Heutezutage denken die Spieler, dass sie gewinnen müssen. Das Spiel muss gewinnen.”
Jonathan Meeses Kunst ist laut, unbequem; auch der Begriff des Terrors beschreibt das Geschehen oft sehr gut. In Verbindung mit den Begriffen “Diktatur” und “Herrschaft” lässt sich hier schnell ein weiterer Ideologe vermuten, welcher die Maximen “Religion”, “Rasse” oder “Profit” durch jene der Kunst ersetzen will. Doch genau Gegenteiliges ist der Fall. Was bedeutet sie also, die Diktatur der Kunst? Freiheit von Ideologie, von Zensur, Mitläuferschaft und Personenkult in Form von Gurus, Popstars oder Politikern. Die Diktatur der Kunst bedeutet eine Organisation aller gesellschaftlichen Strukturen im Sinne der Kunst, das heißt zum Wohle des Menschen. Als Einzelnem in der Gemeinschaft. “Wir können Wirtschaft betreiben im Namen des Gesamtkunstwerks, das Verkehrswesen, Schulen betreiben im Namen der Kunst. Das ist alles möglich, nur wir machen es derzeit eben anders.” Es geht nicht um die Herrschaft eines:r Einzelnen. “Kunst ist die Abwesenheit von Ideologie, alles, was ohne Ideologie ist, ist Kunst.”
Um die Idee der Herrschaft der Kunst zu schärfen, lohnt eine Betrachtung des Begriffes der Kunst. Wer soll hier herrschen? “Kunst ist die treibende Kraft, wie Atem, ohne Kunst können wir nicht weiterkommen, weil Kunst die Zukunft ist.” Die Kunst ist Wahrheit, die Staatsform von morgen. Die Gesellschaft im Sinne der Kunst zu leiten bedeutet somit, sie mit dem Blick auf die Zukunft für jene auszustatten. Ohne Furcht, die Missstände zu identifizieren und nachfolgend anzugehen. “Der Ruf nach Kunst ist gut, und die Wahrheit heißt Kunst. Wir kommen aus dem Pessimismus raus, wenn wir das Falsche benennen und vernichten. Die Kunst erledigt Dinge.”
Freiheit von Zensur, Ideologie und Mitläuferschaft. Auch dies könnte leicht als eine Aneinanderreihung von sogenannten Buzzwords gedeutet werden. Die Kunst Jonathan Meeses spricht eine andere Sprache. Obgleich jedes einzelne Werk eine feine Balance zwischen Harmonie und Gewalt trägt, somit essenziell poetisch und nicht destruktiv ist, sind die Arbeiten nicht in einem klassischen Sinne schön. Es handelt sich nicht um eine anbiedernde Schönheit, welche unmittelbar einen allgemeinen Konsens hervorrufen würde. Diese Kunst möchte zum Aushalten anregen. “Bei Überforderung, Ablehnung, und Unverständnis sollte man stets hellhörig werden! Wenn das eigene Empfinden gestört wird, ist es gut möglich, dass es sich um Kunst handelt. Kunst ist eine notwendige Störung.”
Das Triptychon “KANONENFUTTERZ MI NIT ON: LADY PYRAMIDADDY “AB HEUTE”!”, 2019-2021 zeigt ein farbintensives, halb-abstraktes Geschehen mit verschiedenen figürlichen Referenzen und stark gestischer Prägung. Nach Aussage des Künstlers handelt es sich bei den Figuren um einen Kraken, ein Vampir-Teufelchen in der rechten Bildhälfte und den Künstler als Roboter in der linken. Die Autorin sieht hier mittig eine Libelle, rechts ein unidentifiziertes Pokemon und links einen Soldaten aus der Kartenspiel-Armee aus “Alice im Wunderland”. Auch hier könnte von diversen Störmomenten gesprochen werden. Oder von einem Raum, in welchem verschiedenste Wesen friedlich miteinander existieren, und so ein Modell für eine ebensolche irdische Koexistenz geben. Dieser Raum ist die Kunst. Oder eben die künstlerische Organisation des Gemeinwesens. “Kunst ist kein Angst-Raum. Kunst ist der Zwischenraum, der sich ultimativ ausdehnt. Die Zwischenräume zwischen den Kunsträumen müssen beachtet werden, dann kommt es zur Zusammenkunft aller Kunst-Orte und dem Gesamtkunstwerk.”
Ob die Herrschaft der Kunst bereits – wenn auch im kleinsten Rahmen – realisiert worden ist? “Wenn man in den Wald geht, herrscht dort erst einmal nur Kunst, als die Dinosaurier lebten, herrschte die Kunst, weil der Mensch nicht da war. Der Mensch ist das einzige Wesen, dass sich der Kunst in den Weg stellen konnte.” Hier eine weitere Eigenschaft der Kunst: Kunst ist der essenzielle Feind der Politik. “Und die Politiker spüren dies, daher versuchen sie, die Kunst wo es möglich ist, klein zu machen.” Warum dieses Zurückdrängen? Aus Angst. Wovor? Vor dem Anderen, Neuen, Unbekannten und Unkontrollierbaren. Ergo ein zwanghaftes Bedürfnis nach Kontrolle, wie es in zahlreichen Formen des Politischen – unterschiedlichster Couleur – derzeit in Erscheinung tritt. “Wenn wir heute die Freiheit der Kunst nicht ultimativ verteidigen, dann wird eventuell etwas sehr Schlimmes an die Macht kommen. Deshalb dürfen wir die Kunst auch nie selbst zensieren, dann sind wir bereits Kanonenfutter im Bauch der Ideologen.” Die Kunst ist Abgabe von Kontrolle, Hingabe und Akzeptanz des Unbekannten. “Kontrolle abgeben ist das Schönste, das es gibt. Man muss nur wissen, von wem man kontrolliert werden möchte. Die Kontrolle an die Kunst abgeben ist wunderbar. Die Kunst macht den Raum offen für die Zukunft.” In diesem Sinne bedürfen die Arbeiten der Neugierde, Offenheit und des Vertrauens.
Was folgt danach? “Die Kunst spielt mit mir, dann bin ich müde, dann schlafe ich, und dann mache ich morgen weiter. Und irgendwann sterbe ich, und das ist auch gut. Dann bin ich Feenstaub, und irgendwann wird sich dieser Feenstaub zu etwas Neuem zusammenfügen.” Eine tröstende Vorstellung.
Überhaupt: “Wenn die Realisten nicht mehr weiter wissen, fragen sie die Kunst. Weil die Kunst ein Ausblick ist. Die Kunst ist das Tröstliche überhaupt.” In seiner “Geburt der Tragödie” verhandelt Friedrich Nietzsche das Verhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen in der Kunst. Ersteres beschreibt er als ein “Streben, Verlangen nach Schönheit, Schein, und Lust”, das Dionysische als ein “Verlangen nach dem Hässlichen, zum Pessimismus, zum Furchtbaren und Bösen [15]”. Das Apollinische offenbart sich im Traum, das Dionysische feiert den Exzess. Mit diesen Charakteren gehen ein Optimismus und Pessimismus in Bezug auf die Betrachtung der Weltdinge einher. Die Autorin sieht wie erwähnt ein subtiles Gleichgewicht zwischen Liebe und Gewalt, Optimismus und Pessimismus in den Arbeiten Jonathan Meeses: Helle, starke Farben und schwarze Konturen, Schmetterlinge und Faune, Vampire und Riesenkraken. Für einen Ausgleich bedarf es all dieser Kräfte. Oder: Der Ausgleich schafft das Miteinander. “Die Realität ist derzeit besetz von Hässlichkeit, böser Anarchie, Willkür und Horror. All das sollte man apollinisch in die Kunst bringen und dann ordnet es sich. Man braucht beides, aber das Chaos ist auf Dauer nicht aushaltbar und muss geordnet werden. Wenn man die Kunst ernst nimmt und nicht zensiert, dann befreit sie.”
Viele der Arbeiten in der Ausstellung entstanden in Werkstätten, Team-Arbeit. Für den Künstler ist dieser Tatbestand bereits Teil des Gesamtkunstwerks, “ein riesiger, spielerischer und wunderbarer Kreislauf. Alle können im Namen der Kunst arbeiten. Ein Ort, eine Stadt, ein Land, das kann alles Kunst sein. Es kommt nur darauf an, wie wir es verwerten. Kunst ist der einzige Wert der Zukunft hat.” Zurück zum Titel und Anliegen dieses Schriftstückes: Die Diktatur der Kunst ist möglich. Als eine spielerische, aber ernsthafte, auf die Zukunft und zukünftige Bedürfnisse ausgerichtete Organisation der Gesellschaft. Eigennutz, Profitgier und Konkurrenzverhalten haben hier keinen Raum. Ebenso wenig Angst und jegliche Formen der Ideologie. “In der Kunst ist man für sich und für das, was man tut, verantwortlich. Allerdings muss man auch Distanz halten, sonst kommt man der Kunst zu nah und wird zu Ikarus. Parsifal ist die richtige Figur, er hat Macht, ohne es zu wissen. Die Macht wird gespielt, Kunst ist spielerischste Macht.”
Die Kunst ist Spiel. Jonathan Meese spielt. Mit Worten, Formen, Materialien, Ideen; und sich selbst. Die Kunst ist auch eine Distanzierung, zu sich selbst und der Kunst. “Die Kunst ist keine Ich-Verwirklichung. Man muss das Selbst ins Spiel werfen. Wenn wir Spielzeug der Kunst sind, sind wir zukunftsfähig.” Eine Selbstobjektivierung im Namen der Kunst, welche ein Aufgehen in einem Ganzen, Selbsthumor und Selbstkritik möglich macht. Auch dies überaus wünschenswerte Eigenschaften für die Teilnehmer:innen einer friedlichen, konstruktiven gesellschaftlichen Existenz. Und so sprechen Jonathan Meese und all seine Vorkämpfer:innen: “Ihr sollt lachen lernen”.
WANN: Die Ausstellung AMAZONENGOLD de LARGE läuft bis Samstag, 22. Mai 2021.
WO: Galerie Sies + Höke, Poststraße 2+3, 40213 Düsseldorf.