Lineare Verknüpfungen Johanna Calle bei Lohaus Sominsky
16. Juli 2024 • Text von Quirin Brunnmeier
Johanna Calle zieht in ihrer Kunst die feinen Linien zwischen Klarheit und Komplexität, kühler Präzision und kräftigem künstlerischem Ausdruck. In ihren zarten, fast poetischen Arbeiten verbindet die kolumbianische Künstlerin komplexe und symbolisch aufgeladene Themenfelder. Die Ausstellung “Lineal” bei Lohaus Sominsky ist ein überzeugender Einblick in ihr vielschichtiges und komplexes Werk.

Die Linie ist neben dem Punkt eines der grundlegendsten Elemente nicht nur in der Geometrie, sondern auch in der bildenden Kunst. Mit Linien werden Räume konstruiert, Narrative gespannt und Kompositionen gebildet. Unter dem Titel “Lineal”, ein Wort, das auf Deutsch, Englisch und Spanisch die gleiche Bedeutung hat, zeigt die Galerie Lohaus Sominsky nun Arbeiten der kolumbianischen Künstlerin Johanna Calle.
Alle präsentierten Arbeiten sind Zeichnungen, die mit unterschiedlichen Linien gestaltet wurden. Die Linie ist dabei für Calle nicht lediglich das grundlegende formelle Element, sondern der Kern einer eigenen künstlerischen Sprache. In ihrem erweiterten Verständnis von Zeichnung verwendet sie verschiedenen Ausprägungen, von zarten Bleistiftzeichnungen bis hin zu komplexen Metalldrahtskulpturen.

Eine weitere Ebene Calles künstlerischer Praxis ist der Umgang mit Worten, Buchstaben und Text. Verschiedene Formen des Geschriebenen sind so zentraler Bestandteil ihrer Strategien. Einige der in München gezeigten Arbeiten sind mit einer mechanischen Schreibmaschine aus den 1940er Jahren hergestellt. In ihren Tintenwerken stellt Calle Linien von Buchnotizen dar, die eigentlich dazu dienen, handschriftliche Notizen in parallelen Mustern zu begrenzen. Ein Schreiben außerhalb dieses Systems aus Linien gilt in der Kalligrafie als Symptom eines ungezogenen Charakters.

Calle zeigt Strukturen und Systeme der Ordnung, die gestört wurden. Gitter und Linien werden unterbrochen und zerschnitten. Statische Gebilde werden so dynamisch, feste Gitter aus Metall formbar. Starrheit wird zu Bewegung.
Originaldokumente wie Aktien sind zudem Material auf denen Calles Zeichnungen entstehen. Die Künstlerin eignet sie sich historische und bürokratische Dokumente an, die zur Registrierung von Grundbesitz oder wirtschaftlichen Transaktionen in ihrer Heimat verwendet wurden. Diese werden neu kontextualisiert und so zu einem integralen Bestandteil ihrer forschungsbasierten Methodik, in der sie Mechanismen von Macht, Ausbeutung und Naturzerstörung visualisiert.

Die Ausstellung “Lineal” ermöglicht einen profunden Einblick in das vielschichtige und komplexe Werk von Johanna Calle. Die Künstlerin schafft inhaltliche wie formelle Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen zeitlichen wie thematischen Ebenen. Dabei unterläuft sie existierende Systeme der Ordnung und Organisation in einer eleganten und durchdachten Art.
Calle verknüpft ein erweitertes Verständnis der Möglichkeiten der Zeichnung mit tiefen Recherchen und historischen Fragestellungen: Sie erforscht und vermittelt soziale Ungerechtigkeiten, staatliche Repressionen, die Auslöschung kultureller Identität und die Zerstörung sozialer und ökologischer Gefüge. Ihre zarten und durchdachten Kompositionen sind vielschichtig und in ihrer Eleganz höchst komplex und aktuell.
WANN: Die Ausstellung “Johanna Calle: Lineal” ist noch bis zum 31. August zu sehen.
WO: LOHAUS SOMINSKY, Ottostraße 10, 80333 München, Lenbachplatz.