Aus der Luft gegriffen "Floor to Ceiling" - Jesse Stecklow bei Sweetwater
6. April 2023 • Text von Lara Brörken
Vorne, hinten, oben, unten, links, rechts, gestern, heute, morgen – Jesse Stecklow liebt den Querverweis. Jede seiner Arbeiten nimmt Bezug auf eine andere oder ist Hinweis auf eine, die noch entstehen wird. Er installiert seine Werke so, dass sie auf die Beschaffenheit des Raumes eingehen und analysiert und verarbeitet in ihnen die Stoffe, die in der Luft ihrer Umgebung liegen. Seine Solo-Show “Floor to Ceiling” bei Sweetwater ist Forschungs- und Erforschungsfeld.
Von der 1 zur 2 zur 3 zur 4 … mit jeder gezogenen Linie wächst das Bild, ein Gesamtbild fügt sich zusammen, das aus einzelnen Verweisen zwischen Punkten und Zahlen besteht. Jesse Stecklows künstlerische Praxis ähnelt dem Spiel “Malen nach Zahlen” in einigen wesentlichen Aspekten. Auch seine Arbeiten haben einen Startpunkt, von dem aus sich die erste Linie ziehen lässt, auch sie sind ein rätselhaftes Spiel. Am nächsten Werk angekommen, entspringt diesem eine oder mehrere weitere Verbindungslinien. Letztlich hat jedes Werk mit mindestens einem Weiteren aus der Vergangenheit oder einem in der Zukunft Liegendem zu tun. Sie sind alle verbunden, gar verwandt. Ab einem gewissen Punkt trifft der Vergleich mit einem Stammbaum besser zu. Aber zurück zu der Nullstelle.
Wo die Uhr stillsteht, entspringt Stecklows Kunst. Die erste Arbeit, die Nullstelle in der Solo-Show “Floor to Ceiling“ bei Sweetwater bildet eine Porzellanschale, auf der das Zifferblatt einer Uhr abgebildet ist. Ihre Zeiger werden von metallischen Stiften blockiert, nur symbolisch, denn diese Uhr ist vielmehr ein Teller als eine wirklich tickende Uhr. Sie fängt dennoch einen Zeitraum ein, allerdings über die Metallstifte: Sie sind Luftprobennehmer. Über die gesamte Laufzeit einer jeden seiner Ausstellungen sammeln diese kleinen Stäbe Luftproben für den Künstler, die er am Ende in einem Labor in Kalifornien analysieren lässt.
Die Ergebnisse einer solchen Analyse bilden den Untergrund, die Basis für alle Arbeiten. Manchmal im wahrsten Sinne des Wortes, wenn wie in der Arbeit “Database (Case Narrative)” ein Brief des ALS-Labors, in dem der Eingang einer Probe bestätigt wird, auf eine MDF-Platte gedruckt ist und vier Kerzen in Form von Maiskolben auf ihm stehen. Basis aber auch im verweisenden Sinne, denn Ethanol auf Maisbasis wurde einer solchen Stecklow-Probe erstmals nach einer Ausstellung im Jahr 2015 entnommen. Seither ist Mais ein wiederkehrendes Motiv in Stecklows Werk.
Mais in Kerzenform, echte Maiskolben, Mais-Whiskey, Maissirup oder Seifenspender in Maiskolbenform platzieren sich verteilt auf Corian-Platten im Raum, die dem Mais eine kleine Bühne bietet. Würden Linien von Platte zu Platte gezogen werden, würde sich ein Raster auf dem Boden abbilden. Es spannt sich zwischen ihnen von Mais zu Mais jedoch auch ein metaphorisches Netz, das immer wieder auf den Ursprung, die Luftanalyse zurückführt.
Ein weiteres Motiv ist das Ohr. Über die Bezeichnung im Englischen “an ear of corn”, was übersetzt “die Maisähre” bedeutet, verbinden sich das Ohr und der Mais sprachlich. Viel relevanter ist dem Künstler in Bezug auf das Ohr jedoch eine Erinnerung an seinen Opa, dessen Ohren er als Kind skizzierte. Zudem ist das Ohr das einzige Sinnesorgan, das sich nie gänzlich seiner Umgebung verschließen kann und wie die Luftprobennehmer kontinuierlich Eindrücke aus der Umgebung sammelt.
Mit der Arbeit “From Ear to Ear and Back Again” treffen sich Ohr und Mais in Form von Ohrentropfen. Diese enthalten Essigsäure, die aus Mais gewonnen wird. Auf einer ausgewerteten Probe, die er während seiner Ausstellung im mumok in Wien 2019 sammelte, stehen neben den Ohrentropfen auch Maiskolben, Mais-Whiskey und pure Essigsäure.
Zwei Felder weiter stehen Maiskolben-Seifenspender, gefüllt mit Maissirup, auf denen jeweils eine schwarz-weiße Nahaufnahme einer Ohrmuschel angebracht ist. “Cornspearacy” nimmt zwei Felder im Raum ein. Auf dem vorderen sind ältere und auf dem dahinterliegenden jüngere Ohren zu sehen. Die Ohr-Fotografien sammelte Stecklow von Besucher*innen mit Hilfe seiner interaktiven Arbeit “Ear-Collector”, die einmal Rahmen seiner Ausstellung “Ditto” 2019 bei Sweetwater gezeigt wurde und 2022 im mumok im Wien. Die Ohren verklammern das, was war und was noch kommt, sie referieren auf die Kindheit des Künstlers, auf verschiedene Generationen, aber auch auf die künstlerische Vergangenheit Stecklows.
Zwischen den kleinen Mais- und Ohr-Bühnen ziehen Reihen von Glühbirnen ihre geraden Bahnen. Die sonst hell und steril leuchtenden LEDs sind in gelbes Wachs getaucht, der ihnen eine Zipfelmütze aufgesetzt hat und das Licht erwärmt. Der kleine Zipfel auf den Lampen erinnert an die ursprünglichste aller Glühbirnen, an die, die noch mundgeblasen und stromfressend waren. Zudem verlinkt das Wachs die Lampen mit den Maiskolbenkerzen. Aufgereiht sind die Glühbirnen orientiert an der Deckenbeleuchtung des Ausstellungsraumes, sie reflektieren die Neonröhren der Decke auf den Boden: “Floor to Ceiling” eben.
Der Name ist Programm. Die Buchstaben des Ausstellungstitels “Floor to Ceiling” nutzt Stecklow um jeder Arbeit eine Unterschrift zu geben. Dieser Akt der Dekonstruktion und Rekonstruktion verleiht seinen Arbeiten Sätze wie „flog erotic loin“ (dt: auspeitschen erotische Lende), „I’ll forgo notice“ (dt: ich verzichte auf eine Mitteilung) oder „eco floor tiling“ (dt: Ökobodenbelag). Ein Kreuzworträtsel, ein Wortspiel sondergleichen!
Am Ende des Raumes an der Wand setzt sich plötzlich eine Box in Bewegung. Mit ihrer sich drehenden Bewegung poltert ein kleiner Ball in ihr herum, ohne herauszufallen. Die Box hat die Form des Grundrisses von Sweetwater. Das Kugelgeräusch zeichnet den Grundriss des Ausstellungsraumes akustisch nach.
In kleinen unscheinbaren Käfigen vor jeder der vier Säulen im Raum ist unter einem mit Kreuzkümmelöl – auch das lag erstaunlicherweise mal in der Luft – beträufeltem Schuhkartondeckel ein kleiner Lautsprecher versteckt. Aus ihnen schallen gesammelte Soundpieces, die Stecklow mit aus den Materialien seiner Werke und einer Stimmgabel erzeugt hat. Auch das bereits fast vertraute Kugel-Poltern ist zu hören, dieses zeichnet jedoch einen Raum der Vergangenheit. Es gilt die Ohren zu spitzen und Soundproben zu nehmen.
Stecklows Arbeiten ziehen auf sämtlichen Ebenen ihre Fäden, sind miteinander verwoben und metaphorisch verklebt. Sie haben einen Stammbaum, auf den natürliche Gegebenheiten und Menschen einen ständigen Einfluss haben. Besucher*innen werden unweigerlich an ihren eigenen Einfluss auf ihre Umgebung erinnert, an die Luft, auf die kleinsten Partikel, das Zusammenspiel von Faktoren, auf das, was war und das Leben zukünftiger Generationen. Der Kreis schließt und öffnet sich ständig, Stecklows Kunst hat einen Ursprung, aber es ist kein Ende in Sicht – zum Glück und Spaß aller, die sich seinen Ohr-, Mais- und Lampen-Rätseln hingeben wollen. Es ist erprobt: Sie werden sie einlullen.
WANN: Jesse Stecklows Ausstellung “Floor to Ceiling” läuft noch bis Samstag, den 15. April.
WO: SWEETWATER, Leipziger Straße 56-58, 10117 Berlin.