Mut zur Wissenslücke
"Mock Kings" von Jala Wahid im Kunstverein Freiburg

11. April 2023 • Text von

Wie kann Kunst Nicht-Wissen ausdrücken und beschreiben? In ihrer aktuellen Ausstellung “Mock Kings” im Kunstverein Freiburg findet Jala Wahid ihren eigenen künstlerischen Umgang mit Wissenslücken und wirft komplexe Fragen auf: nach kolonialen Machtgefügen, kurdischer Geschichte, Archäologie und den Widersprüchen kurdischer und westlicher Erzählstrukturen.

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Jala Wahid, Mock Kings, Installationsansicht, Kunstverein Freiburg, 2023, Foto: Marc Doradzillo.

Für ihre erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland hat die britisch-kurdische Künstlerin Jala Wahid den Kunstverein Freiburg, ein ursprünglich in den 1930er Jahren erbautes Schwimmbad, in ein tiefrotes Licht getaucht, das in ständiger Wechselwirkung mit dem Tageslicht draußen steht. Im Mittelpunkt von “Mock Kings” steht die gleichnamige 22 Meter große Käfiginstallation aus Stahlstreben, die eine Umrissskulptur eines Stieres umrahmen.

Diese raumgreifende Arbeit setzt sich mit der karnevalesken kurdischen Performance “Mîrmîran” auseinander über die heutzutage nur noch wenig überliefert ist. Sie fand im Freien statt, weshalb das Licht in der Ausstellung mit eine zentrale Bedeutung einnimmt. Die nahezu einzige Quelle mit der die Künstlerin gearbeitet hat, ist ein kurzer Absatz aus dem Buch “Kurdish Nationalism on Stage” von Mari R. Rostami. Die Performance “Mîrmîran” befähigte einen falschen König, den “Mock King”, zur Ausübung der temporären Regierungsmacht und dem Erteilen von Befehlen an die Bevölkerung. Die Regierenden gaben ihre Macht für die Dauer der Performance ab und jedes verabschiedete Gesetz musste in diesem Zeitraum befolgt werden. Die Gesetze waren teilweise bizarr, teilweise ernsthaft und gaben auf spielerische Art und Weise Aufschluss darüber, womit die Bevölkerung zufrieden war oder nicht. Aufgeführt wurde die Performance im Rahmen von “Newroz” am 21. März, dem kurdischen Neujahrs- und Frühlingsfest. In den verschiedenen kurdischen Gebieten, der Türkei, im Irak und Iran sowie Syrien, im Laufe des 20. Jahrhunderts gewaltsam unterbunden und umbenannt, hat sich dieser Tag heutzutage als Tag des kurdischen Widerstands und des Freiheitskampfes etabliert.

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Jala Wahid, Metaphysical Reunification, 2023, Foto: Marc Doradzillo.

Die künstlerische Arbeit von Jala Wahid, die die Medien Skulptur, Film, Sound, Installation und Schreiben beinhaltet, basiert grundsätzlich auf zeitintensiven Recherchen zu Fragen von Erinnerung, Kolonialismus, Bewahrung, Kultur, der kurdischen Geschichte sowie die Beziehung zwischen Kurdistan und Großbritannien und fußt auf einer großen Menge Material. In “Mock Kings” sieht sich die Künstlerin erstmalig gezwungen, mit Nicht-Wissen umzugehen, die die fehlenden Informationen zu “Mîrmîran” unweigerlich mit sich bringen.

Während der britischen Besatzung in kurdischen Gebieten wurde die Performance als unkalkulierbares Risiko und politische Bedrohung eingestuft, ab 1922 zensiert und jede weitere Überlieferung damit ausgelöscht. In einem begleitenden Interview zu der Ausstellung mit der Kuratorin, Theresa Roessler, bezeichnet die Künstlerin Jala Wahid einen “solchen Akt der Vernichtung” als “eine der brutalsten Formen kolonialer Gewalt.” Seit der politischen Besetzung Mesopotamiens, dem heutigen Staatsgebiet des Irak, durch Großbritannien, ist das archäologische Interesse an der Region groß – deshalb befinden sich viele Artefakte in westlichen Museen, wie zum Beispiel dem British Museum in London. In der dortigen Nahost-Sammlung befinden sich derzeit rund 300.000 Exponate.

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Jala Wahid, Mock Kings, Installationsansicht, Kunstverein Freiburg, 2023, Foto: Marc Doradzillo.

Im Obergeschoss des Kunstvereins, der umlaufenden Galerie, ist die zweite Arbeit mit dem Titel “Metaphysical Reunification” in der Ausstellung zu sehen – ein in Aluminium gegossenes 54-teiliges Spielkartenset, das sowohl Textfragmente als auch menschliche und tierische Körperteile zeigt. Ein durch das US-Verteidigungsministerium 2007 herausgegebenes Kartenset sollte US-Soldat*innen während der Invasion in den Irak, die 2003 begann, dazu anregen, archäologische Artefakte zu bewahren. Jala Wahids präsentiert in der Ausstellung ein alternatives Kartendeck.

Die Motive beziehen sich teilweise auf Objekte aus Mesopotamien, heutzutage Staatsgebiet des Irak und der Region des heutigen Kurdistan, die mittlerweile in London oder Paris ausgestellt werden oder deren Aufenthaltsorte nach der Irak-Invasion noch immer unbekannt sind. Sie werden als Pik- und Kreuz-Karten dargestellt. Eine Auswahl dieser Motive erweitert die Künstlerin durch fiktive Objekte, denen sie die Herz- und Karo-Karten zugewiesen hat. Die reine Betrachtung gibt zunächst keinen Aufschluss darüber, welche Objekte real und welche imaginiert sind. Da alle Bildmotive künstlerisch modifiziert und verändert sind, ist es für das Gesamtwerk nicht zwingend notwendig, die Zuordnung zu kennen. Diese archäologischen Spekulationen, das Spiel mit Fiktion und Realität nutzt die Künstlerin als Werkzeuge, um mit den vorhandenen Wissenslücken unserer Gegenwart umzugehen, sie als solche zu präsentieren und wortwörtlich in den Raum zu stellen. In den kleinformatigen Wandreliefs kommen erneut komplexe Strukturen allmählich zum Vorschein: die Verbundenheit von Krieg und Archäologie, Plünderungen und Zerstörungen, die Gier nach Kulturgut.

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Jala Wahid, Metaphysical Reunification, 2023, Foto: Marc Doradzillo.

Geschichtsschreibung, Machtverhältnisse und politische Systeme, kurdische wie westliche Erzählweisen und Standpunkte sind komplex und widersprüchlich – das geht deutlich aus der Ausstellung “Mock Kings” hervor. Irgendwo in diesem verworrenen Geflecht aus Informationen, Spekulationen, Nicht-Informationen und diasporischen Realitäten bewegt sich die künstlerische Position von Jala Wahid. Sie dient nicht dem Zweck, eindeutige Antworten zu liefern oder Schuldzuweisungen zu treffen, sondern eröffnet eine neue Betrachtungsebene und ist das Ergebnis eigener Recherchen und Auseinandersetzungen mit Fragen nach Formen der Bewahrung, den Auswirkungen des Kolonialismus, der Geschichte von Kurdistan, Verlust von Kulturgut sowie Fragen nach Macht, Besitz und Nationalstaatlichkeit.

Die Arbeit “Mock Kings” geht außerdem der Frage nach, welche Kraft Kunstpraktiken und Performances wie “Mîrmîran” auf repressive politische Systeme ausüben können und welche Gefahr sie tatsächlich darstellen. Auch hier kann die Künstlerin keine klaren Antworten liefern, da jeder Versuch einer Nacherzählung aufgrund der fehlenden Informationen Spekulation bleibt. In diesem Zusammenhang ergeben sich unweigerlich weitere Fragen nach Gerechtigkeit und den äußeren Eingriff auf kulturelle Traditionen durch koloniale Mächte: wer hat das Recht, Kunstpraktiken ihren Wert abzusprechen oder sie gar auszulöschen? Wie finden wir – vor allem in der westlichen Welt – einen Umgang mit solch ausgelöschtem Nicht-Wissen, mit dem Verlust von Kunstpraktiken und Kultur? All diese Gedankenströme stößt Jala Wahid mit ihrer Position maßgeblich an. Ihre Arbeiten sind ein visueller Ausdrucks des immer wiederkehrenden Versuchs, historische Ereignisstränge nachvollziehen und Wissenslücken füllen zu können und gleichzeitig der Erkenntnis, diesem Anspruch aufgrund fehlender Überlieferungen und Dokumentation wohl nie vollständig gerecht werden zu können.

Das umfangreiche Begleitprogramm zur Ausstellung bietet verschiedene Anknüpfungspunkte an die Themen, die Jala Wahid in ihrer künstlerischen Praxis behandelt, und Möglichkeiten zur Vertiefung im Rahmen von Lesungen, Workshops und Gesprächsrunden.

WANN: Die Ausstellung “Mock Kings” läuft bis zum 14. Mai 2023.
WO:
Kunstverein Freiburg, Dreisamstraße 21, 79098 Freiburg.

Vielen Dank für die Presse-Einladung nach Freiburg und die Übernahme der Reisekosten.