Sphären der Macht Andrea Fraser über Macht, Geschmack und den globalen Kunstmarkt
24. Oktober 2024 • Text von Quirin Brunnmeier
Seit mehr als 30 Jahren gilt Andrea Fraser als eine der radikalsten und einflussreichsten Protagonistinnen ihrer Generation. In ihrer Institutionskritik hinterfragt sie die Mechanismen der Kunstwelt, die offen und verborgen wirken. Anlässlich ihrer in der Fondazione Antonio Dalle Nogare in Bozen gezeigten Retrospektive trafen wir die Künstlerin, Autorin und Denkerin zu einem Gespräch über Macht, Distinktion, Geschmack und den globalen Kunstmarkt.
Ihre Arbeit ist analytisch und empathisch, radikal und dennoch humorvoll. In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Fraser performative Aktionen, Skripte und Daten, um die sozialen, finanziellen und ökonomischen Dynamiken kultureller Organisationen und Systeme kritisch zu identifizieren. Die im April in der Fondazione Antonio Dalle Nogare eröffnete Retrospektive “«I just don’t like eggs!» Andrea Fraser on collectors, collecting, collections” umfasst Werke aus der gesamten Laufbahn der Künstlerin, von den späten 80er Jahren bis zu ihren jüngsten Produktionen. Der ungewöhnliche Titel ist ein Zitat der englischen Kunstsammlerin Janet de Botton, das die Künstlerin Andrea Fraser in ihrer Performance “May I Help You” aus dem Jahr 1991 verwendete. Im Zuge der aktuellen Ausstellung zeigte Fraser die Performance erneut.
gallerytalk.net: Die Performance “May I Help You” basiert auf Gesprächen mit und Recherchen zu Künstler*innen, Sammler*innen und Galeristin*innen sowie Menschen außerhalb der Kunstwelt. Das Script unterscheidet sechs verschiedene Stimmen, die sechs verschiedene gesellschaftliche Positionen repräsentieren. Obwohl die Arbeit schon mehr als drei Dekaden alt ist, wirken die angesprochenen Themen sehr aktuell. Hat sich denn überhaupt nichts geändert?
Andrea Fraser: Das Piece wurde Anfang der 1990er Jahre uraufgeführt, aber ich habe um 2005 einige Änderungen vorgenommen. Diese Änderungen spiegelten die Finanzialisierung des Kunstmarktes, den Aufstieg der Kunst als Anlageklasse und die wachsende Bedeutung der Wall Street und der Hedgefonds in der Kunstwelt wider. Dinge, über die wir 1991 noch nicht gesprochen haben. Schon Mitte der 2000er Jahre verließen sich die meisten großen Sammler auf Kunst Advisors und Berater. Zu dieser Zeit erschien das Konzept von Geschmack, zumindest in Bezug auf das Sammeln, schon fast nostalgisch, irgendwie archaisch. Wenn es überhaupt noch um Geschmack ging, dann war es nicht der persönliche Geschmack, sondern der Geschmack des Marktes.
Wie hat sich dieser Markt verändert?
Der Kunstmarkt hat sich in den letzten drei Jahrzehnten massiv erweitert. Er hat sich in jeder Hinsicht vergrößert: das Volumen des Kunstmarktes, die Anzahl der Biennalen, die Anzahl der Kunstmessen, die Anzahl der Galerien, aber auch die Anzahl der Menschen, die versuchen, in diesen Bereich einzusteigen. Es gibt unzählige Kunststudiengänge und Menschen, die diese Studiengänge absolvieren und Künstler*innen werden wollen. Sie werden auch von den Verlockungen angetrieben, was die Kunstwelt den Menschen bieten könnte.
“May I Help” ist sehr vielschichtig. Was waren die wichtigsten Einflüsse ?
Es ist natürlich stark von Pierre Bourdieu beeinflusst und zitiert ziemlich viel direkt aus “Die feinen Unterschiede”. Was die Dynamik und die Strukturen in der Kultur und die Überschneidungen mit Klasse angeht, haben sich die Dinge nicht wirklich geändert. Ich glaube sogar, dass diese Strukturen noch ausgeprägter geworden sind. Heute neigt die Linke dazu, Klasse über den wirtschaftlichen Status zu definieren. Die Rechte definiert Klasse über Kultur und Bildung und spricht von der gebildeten Klasse, der kulturellen Klasse und den kulturellen Eliten. Dies war ein zentraler Faktor für den Aufstieg des Rechtspopulismus in den USA und Europa.
Können Sie das näher erläutern?
Bourdieu argumentiert, dass das künstlerische Feld eine dominante Position innerhalb des Gefüges aller Formen der Macht in der Gesellschaft einnimmt, das er das Feld der Macht nennt. Es gibt nicht nur wirtschaftliche Macht, sondern auch kulturelle Macht, und es gibt den Raum, in dem diese Formen der Macht miteinander konkurrieren. Die Kunst befindet sich selbst im Feld der Macht, wird aber gleichzeitig von wirtschaftlicher und politischer Macht dominiert.
Die Kunst ist in der Mitte gefangen?
Ja, und das gilt auch für die Menschen in diesem Bereich. Ich betrachte den Bereich der Kunst als einen sozialen Raum mit strukturellen Konflikten. Es gibt Menschen in der Kunstwelt, die sich in der Nähe von wirtschaftlicher, finanzieller und politischer Macht sehr wohl fühlen. Und dann gibt es Leute, die mit all dem nichts zu tun haben wollen, die politisch gegen diese wirtschaftliche und politische Macht sind und sich mit Communities identifizieren, die von dieser Macht unterdrückt werden. Aber ich denke, der größte Teil der Kunstwelt befindet sich in diesem Zwischenraum, und das macht sie wirklich widersprüchlich, konfliktreich und ambivalent.
Aber die Kunstwelt scheint immer noch sehr attraktiv zu sein, viele wollen Teil davon werden. Was macht diese Anziehungskraft aus?
Vielleicht sind es die humanistischen Werte, die von den Museen gefördert werden oder die avantgardistische Freiheit. Kunst bietet das Potenzial zur Selbstverwirklichung oder die vermeintliche Möglichkeit, einen sozialen Wandel zu bewirken, obwohl wir natürlich wissen, dass diese Aussichten sehr begrenzt sind. Aber diese Ideale sind immer noch ein wichtiger Teil dessen, was die Menschen zur Kunst hinzieht. Aber im Kunstbetrieb verändert man sich dann natürlich. Man wird zynisch oder bewahrt sich eine Art falscher Naivität. Mache werden auch zu wahren Gläubigen, die sich radikalen Positionen verschreiben, was sich aber letztlich oft als selbstzerstörerisch herausstellt. Als strukturell konfliktreicher sozialer Raum zieht die Kunstwelt meiner Meinung nach Menschen an, Intellektuelle, Kritiker*innen, Kurator*innen, aber vor allem Künstler*innen, die eine konfliktreiche Erfahrung oder Beziehung zum sozialen Gefüge haben, oft aufgrund komplexer Identitäts- und Klassenhintergründe.
Sie sind eine scharfe Kritikerin der Kunstwelt und doch ein Teil von ihr. Wie geht das unter einen Hut?
Der Versuch, den Bereich, in dem man sich bewegt, und das, was man darin tut, zu kritisieren, ist für mich das, was Institutionskritik ausmacht. Ich weiß, dass es ein bisschen schwierig ist, wenn ich dazu neige, mich selbst als die extremste Kritikerin von allem darzustellen, während ich selbst Teil davon bin. Meine erste Museumsausstellung hatte ich mit 18, meinen ersten Essay habe ich mit 19 veröffentlicht. Ich bin seit 40 Jahren Teil dieses Systems. Irgendwann dachte ich, ich könnte Anwältin oder Soziologin werden. In den 2000er Jahren wurde ich von einem psychoanalytischen Institut angenommen, um eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin zu machen. Aber die Kunst bietet einen Raum, in dem man sich mit Konflikten und Widersprüchen auseinandersetzen kann, was in vielen anderen Bereichen nicht der Fall ist. Als Künstler*in ist man frei, einen Raum und eine Arbeitsweise zu finden, die für einen selbst sinnvoll ist.
WANN: Die Ausstellung “I just don’t like eggs!” ist noch bis zum 22. Februar 2025 zu sehen.
WO: Fondazione Antonio Dalle Nogare, Rafensteiner Weg 19 I-39100 Bozen.
Danke an die Fondazione Antonio Dalle Nogare für die Übernahme der Reisekosten.