Internet Explorer: Kunst online #7
Einsamkeit und Gesellschaft

19. Oktober 2021 • Text von

Sich mit Eidechsen identifizieren, sich zu einer fremden Familie an den Tisch setzen, mit Künstler:innen über moralische Pfeiler der Gesellschaft sprechen, einmal selbst durch die dystopische Landschaft von Blade Runner spazieren? All das geht, wenn Kunst und Internet verschmelzen. Epoch Gallery, KV Wiesbaden, Galerie Galerie und documenta 15 machen es möglich und reflektieren über pandemische Einschnitte, die Gesellschaft und ihre Einsamkeit.

Replicants, Intro-Foto, Epoch Gallery,Gordon Cheung, Galath3a, Hung Yu Hao, Keiken, Katja Novitskova, Jennifer West, Dr. Woo, Qianqian Ye + Tiare Ribeaux. Original Music by Konrad Black
REPLICANTS (featuring Gordon Cheung, Galath3a, Hung Yu Hao, Keiken, Katja Novitskova, Jennifer West, Dr. Woo, Qianqian Ye + Tiare Ribeaux. Original Music by Konrad Black) October 9, 2021 – January 14, 2022 EPOCH (epoch.gallery.)

Eine ständige Dämmerung überschattet die nass-triefend heruntergekommene Großstadt der Replikanten. Keine Menschenseele zeigt sich in den dunkeln Gassen. Ganz alleine schlängeln sich die Besucher:innen an massiven Sichbeton-Bauten vorbei. Neonlichter spiegeln sich in den Pfützen. Eine dröhnende musikalische Atmosphäre umgibt den Fremdling, zu dem man selbst automatisch in dieser Dystopie wird. Eine menschenfeindliche Umgebung, eine Umgebung für Androide, in der man auf der Hut ist. Man pirscht sich wachsam zu den Kunstwerken, die die EPOCH Gallery in dieser virtuellen Welt “Replicants” verborgen hält. Jennifer Wests Flatscreens liegen in einem mit Wasser überfluteten Betonklotz, das Bauwerk droht einzustürzen, einzelne Bruchstücke lehnen bereits an seiner Fassade. Die Bildschirme flimmern wie Fremdkörper inmitten des Graus. Sie müssten vom ganzen Wasser längst zerstört worden sein. Nebenan ein Raum mit altem Zahnarztpraxis-Mobiliar und einem Werk von Dr. Woo. Im bedrohlichen Gewässer, das an die Stadt grenzt, wacht Qianqian Ye + Tiare Ribeauxs riesige digitale Skulptur. Keikens „Okapi“ steht so auf der Straße rum. Wenn man sich vorstellt, da kommt gleich ein Mensch um die Ecke, wird einem ganz anders. In dieser aufregend kaputten Nicht-Welt wird spürbar, wie viel trügerische Sicherheit in der Einsamkeit liegt.  

Orian Barki & Meriem Bennani 2 Lizards Videostillm KV Wiesbaden
Orian Barki & Meriem Bennani, 2 Lizards, Videostill, 2020. © Meriem Bennani & Orian Barki Courtesy: Meriem Bennani & Orian Barki and C L E A R I N G, New York / Brussels

Diese zwei Eidechsen sprechen aus, was jede:r von uns in den vergangenen zwei Jahren mindestens einmal gedacht hat. Sie zucken zusammen, als sie einen Regentropfen abbekommen, weil: “Ahh! Somebody spit on me!”. Die Absurdität der ängstlichen Masse wird so leicht und unterhaltsam thematisiert und dank der Tiere, die unsere Gedanken aussprechen, auch karikiert. Einem wird ganz fröhlich zumute. Einfach endlich lachen über die Pandemie. Endlich auch erkennen, welche schönen zwischenmenschlichen Aktionen sie hervorgebracht hat. Die beiden Eidechsen schwofen auf einem Hausdach als die Nachbarin, ein Kamel, beginnt Trompete zu spielen. Der Hund von gegenüber setzt mit dem Klavier ein. Und dann auch noch das Schaf am Cello. Die 2020 auf Instagram erstmals veröffentlichte achtteilige Serie “2 Lizards” der New Yorker Künstlerinnen Orian Barki und Meriem Bennani wurde zu Recht ein Internet-Hit. Noch bis Sonntag, den 19. Dezember, zeigt der Nassauische Kunstverein Wiesbaden die Videos erstmals institutionell in Kooperation mit dem exground filmfest 34.

CinziaCampolese_Confinement-lands.GalerieGalerie2021
Cinzia Campolese: Confinement-lands, video-piece and website, 2021. Courtesy the artist and Galerie Galerie.

Cinzia Campoleses Arbeit “Confinement-lands” erinnert an Puzzleteile, die aus einem Leben gegriffen wurden. Jeder digitale Fetzen kann erkundet werden. Es fühlt sich etwas voyeuristisch an, als würde man an Häuserfassaden vorbeigehen hinter deren Fenstern Licht leuchtet und einfach das Fenster aufstoßen und mal gucken, was die Menschen dort drinnen so machen. Es ist ein digitaler Lockdown-Spaziergang. So scrollt man sich von Puzzleteil zu Puzzleteil und zoomt sich in die Welt einer Person, die an einem Computer sitzt oder man umschleicht eine Familie, die gerade Abend isst. Jeder Raum ist an den Rändern zerfleddert, wie ein Zeitungausriss, dessen Geschichten nur noch teilweise lesbar sind. Er bleibt immer nur ein Bruchstück einer Welt. Darin besteht der Reiz, allerdings auch die Dramatik. Gefangen im Innenraum, nicht einsehen können von außen, nicht kommunizieren können, keine Interaktion sondern Isolation. Das weggesperrte öffentliche Leben. An diese Umstände mussten wir uns wohl oder übel gewöhnen, wir mussten uns unserer eigenen Lage stellen und allen soziokulturellen Ungerechtigkeiten. Wir werden uns auch dank dieser bei Galerie Galerie gezeigten eindrücklich bedrückenden Arbeit an all die unterschiedlichen Lebensrealitäten erinnern und kritisch reflektieren.

lambing calling, guests, Sourabh Phadke, yasmine eid-sabbagh, documenta 15
Sourabh Phadke, Skizze, 2018, Courtesy Sourabh Phadke. (Der Künstler ist zu Gast in der Folge zum Thema “Humor”) // Aus Vies possibles et imaginaires (Editions Photosynthèses, Arles, 2012), eine Zusammenarbeit mit Rozenn Quéré, Courtesy yasmine eid-sabbagh, (Die Künstlerin ist zu Gast in der Folge zum Thema “Großzügigkeit”).

Großzügigkeit, Humor, lokale Verankerung, Unabhängigkeit, Regeneration, Transparenz und Genügsamkeit – das sind die Werte-Säulen auf denen sich die documenta 15 stützt. Sie tragen das Prinzip “lumbung”, was aus dem Indonesischen übersetzt “Reisscheune” bedeutet. Die Reisscheune steht auf Stelzen, in ihr wird überschüssige Ernte gesammelt und geteilt. Weil solidarische Werte das schlagende Herz in der documenta-Brust sind, muss bereits im Vorhinein ausführlich über sie gesprochen werden. “lumbung-calling” ist eine auf dem documenta fifteen-YouTube-Kanal publiziertes Gesprächsformat. Seit April erscheint jeden ersten Samstag im Monat eine Folge, die letzte erschien gerade Anfang Oktober. Jede Folge sprechen “ruangrupa”-Mitglieder und Künstler:innen mit interessanten Gästen über einen der Werte. Die Folge “Humor” beleuchtet beispielsweise auf sehr interessante Weise, dass Humor nicht einfach etwas ist, das man hat – oder auch nicht -, sondern dass Humor auch eine Technik ist, ein Mechanismus, der eingesetzt werden kann, oder missbraucht. Humor sei, so die Künstlerin Gridthiya Gaweewong, jedoch nicht nur ein Instrument, sondern auch so etwas wie Medizin. Humor, so ausstellende Künstlerin und Host Jumana Emil Abboud, sei schwer zu programmieren und ließe uns der Maschine gegenüber menschlich hervortreten. Humor schafft Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten. So erscheint Humor als ein schützenswertes fragiles Gut, wie auch alle anderen besprochenen “lumbung”-Güter, die in den Gesprächen in ihrer Wirkungsmacht und all ihren Facetten beleuchtet und natürlich, im besten “lumbung”-Sinne, mit uns geteilt werden.