Internet Explorer: Kunst online #11
Die Welt steht Kopf

14. Dezember 2021 • Text von

Banz & Bowinkel schaffen bei Priska Pasquer einen mathematischen Raum ohne Schwerkraft, der “Almanac for Refusal” des Festivals Transmediale öffnet ein sich progressiv verweigerndes Universum. Beim Kunstverein in Hamburg konfrontiert Leon Roth User*innen mit der eigenen Konsumgier und die “New Viewings 37” der Galerie Barbara Thumm lassen die Grenzen von Natürlichem und Künstlichem verschwimmen. Wer nach diesem Internet Explorer noch weiß, wo unten und oben ist, hat gewonnen.

Rise of Giants, Banz&Bowinkel, Priska Pasquer, virtual gallery
BANZ & BOWINKEL – RISE OF GIANTS, curated by TINA SAUERLAENDER, exhibition view, PRISKA PASQUER VIRTUAL GALLERY, courtesy PRISKA PASQUER, Cologne.

Wenn sich ein kariertes Mathematikheft von seiner Zweidimensionalität freistrampeln und Raum werden würde, sähe er so aus, wie der von Banz & Bowinkel geschaffene virtuelle Raum bei Priska Pasquer. Das Raster ist hier zu einer Kugel geworden, die verschiedene, 3D-gerenderte geometrische Körper und Flächen in sich einschließt. Die Online-Ausstellung “Rise of Giants” zeigt eine verkehrte Welt, eine Welt in der Kugel. Hier gibt es keine Schwerkraft. Menschliche Körper, die vielmehr Schaufensterpuppen sind, schweben hilflos umher oder rennen auf der Stelle. Die dreieckigen, quadratischen oder auch runden Plateaus sind für sie unerreichbar. Die silbrig glänzenden Kegel und Ringe unter der Kuppel bilden so etwas wie Himmelskörper, sie erscheinen aufgrund ihrer Nähe zum konkav gewölbten Boden nur viel größer als die Natürlichen. Besucher*innen bewegen sich mit Maus und Pfeiltasten durch einen Weltraum, der das Internet selbst darzustellen scheint. Eine verborgen liegende Sphäre wird hier begehbar, eine berechnete, beunruhigende und beklemmende Welt. Die Ruhe scheint trügerisch, hier ist alles zu leblos, zu logisch. Mit dem Berechenbaren, dem Planbaren geht nicht zwangsläufig ein Sicherheitsgefühl einher, das wird hier sehr deutlich. Diese Ausstellung ist Auslöser einer Dankbarkeit für die schwer nachvollziehbare Funktionsweise der Erdanziehungskraft und die unheimlichen und unermesslichen Weiten des Weltalls.

MengXuan Sun: 太初 3030 (Tài Chū 3030), film still, transmediale, Almanac for Refusal
MengXuan Sun: 太初 3030 (Tài Chū 3030), film still, Credit: MengXuan Sun.

Der Almanach ist die Urform des bebilderten Jahrbuches. Er ist Kalender und Textsammlung verschiedenster Fachbereiche zugleich. Genau, wie die ursprüngliche Form, richtet und erneuert sich auch der “Almanac for Refusal” der Transmediale nach dem Mondjahr. Und auch hier kommen Arbeiten sämtlicher Genres internationaler Künstler*innen zusammen, die sich um aktuellste Miss- und Umstände kreisen. Der digitale Kalender gibt dystopischen Zukunftsentwürfen, genauso wie beinahe vergessenen Mythologien, Gesprächen über Schuld, Protesten von LGBTQA+ Personen in Polen und unzähligen weiteren progressiven Verweigerungs-Bewegungen eine Bühne. Die Arbeiten spiegeln die Gesellschaft in Bild, Sound oder Text rückblickend, vorausblickend, anklagend, leise, laut, ortsgebunden oder auch allgemeingültig. Jede Arbeit verbirgt sich hinter einer klickbaren Fläche, auf der der Titel, die Form der Arbeit und die*der Künstler*in zu lesen sind. Klickt man auf Liliana Zeics “Gently Running Downwards” kann das zweijährige Rechercheprojekt der polnischen Künstlerin erkunden. Sie setzt sich in ihrer Video- und Text-Arbeit intensiv mit faschistischer, anti-semitischer und LGBTQA+-feindlicher Rhetorik auseinander und deckt tief eingesickerte strukturelle Probleme auf. Den vielfältigen Arbeiten liegt Refusal, also Verweigerung, als Ausgangspunkt zugrunde. Die Verweigerung wird hier in ihrer sozio-politischen Wirkkraft beleuchtet und nicht als resignierender fauler Zustand betrachtet. Verweigerung ist hier der Anfang von Protest und nicht die Folge von Scheitern. Drei Themenschwerpunkte werden mit “Reibung”, “Abwägung” und “Verstrickung” gesetzt. Die Video-Arbeit der teilnehmenden Künstlerin MengXuan Sun “太初 3030” bildet eine Welt ab, die rundum digital geworden ist, alles Natürliche, Organische ist von Androiden, Screens und Social Media-Feeds verdrängt worden. Alles ist ständig in Bewegung, nichts und niemand ruht sich darin aus. „Almanac for Refusal“ der Transmediale hat ein progressives, aufreibendes Universum geschaffen.

LeonRoth_FREE!41+eGiftCards_KunstvereininHamburg, Digitale Kunst, Rabattcodes
Leon Roth: “FREE!41+eGiftCards”, Credit: Leon Roth.

Leon Roth stellt die Geduld von Online-Shopper*innen mit seiner Arbeit “FREE! 41+ eGift Cards”, die derzeit auf der Website des Kunstvereins in Hamburg gezeigt wird, auf die Probe. Nachdem die Eintrittskarte freigerubbelt wurde, funkeln die Gutschein-Codes verlockend in dem schwarz-weißen Space. Heute verwundert es kaum noch, dass sich zwischen den Zahlen- und Buchstaben-Kombinationen das Geld versteckt. In der puren Häufung der Codes wird aber klar, dass diese Währung alles andere als gewöhnlich ist. Die digitale unbegrenzte Raum wird von klirrende Beats, die fast wehtun und tiefen Bässe, die ein Gefühl von düsterer Unendlichkeit schaffen, untermalt. Die Codes schweben überall und versprechen Rabatte, Rabatte, Rabatte. Insgesamt können 500 Euro gespart werden, aber in welchem Shop kann mit welchem Code wie viel Geld gespart werden? Das ist der Reiz, das ist das Spiel mit der Gier. Es müssen Screenshots von den einzelnen Codes gemacht werden und wo diese dann ihre geldsparende Wirkung entfalten, muss zeitaufwändig herausgefunden werden. Es ist überraschend, wenn nicht sogar schockierend, an sich selbst zu beobachten, wie hoch die Bereitschaft ist, viel Zeit für eine ungewisse Preissenkung zu opfern. Ob sich das Zeitinvestment am Ende lohnt, ist nicht sicher, aber die Möglichkeit besteht – und macht den Reiz des Spiels aus. Die mögliche Ersparnis genauso wie die Aussicht auf ein Erfolgserlebnis sind die Verlockungen der Rabattjäger*innen. Doch Achtung: In Leon Roths Arbeit besteht mit jeder aufgebrachten Minute die steigende Gefahr über die Absurdität der eigenen Gier zu stolpern.

Damien Roach New Viewings #37, curated by David Thorp Installation view, 2021 Courtesy Galerie Barbara Thumm.
Damien Roach New Viewings #37, curated by David Thorp Installation view, 2021 Courtesy Galerie Barbara Thumm.

Die Ausstellungsreihe “New Viewings” der Galerie Barbara Thumm geht in die 37. Runde. Darin eröffnet der Londoner Künstler Mustafa Hulusi mit “Bitter Sweet” eine digital begehbare Orangerie. Seine Ölmalerei lässt die Orangen so künstlich erscheinen, dass ihr fruchtig-saftiger Charakter angezweifelt werden könnte. Der digital anmutende Stil des Künstlers lässt Organisches wie Plastik erscheinen, eine Ästhetik, die aufgrund von Filtern und Bildbearbeitung vorwiegend Instagram und Co. kennzeichnet. A K Dolvens Werke sind feinfühlig und ganz dezent. Ihre schattenhaften Bilder verändern sich, enthalten Reflexionen, wodurch sie trotz des Licht schluckenden Schwarzes lebendig wirken. Linien scheinen Gesichter zu formen, die ihre rote Zunge aus der tiefschwarzen Dunkelheit herausstrecken. Neben ihnen die zartrosafarbene Arbeit “old sunset”, die vielmehr monochrome Farbfläche als Landschaft ist. Die reduzierten Arbeiten der norwegischen Künstlerin schaffen eine friedliche, intime und tiefsinnige Atmosphäre. Neha Choksis Videoarbeit “Urgency and Longing” läuft von der Wand über den Boden. Es zeigt sich vortastende Hände und Körper in einer Umgebung voller Blattwerk. Hände strecken sich nach dem üppigen Grün aus. Auch in ihren ausgestellten abstrakten Malereien scheint das Blattwerk haptisch zu werden. Die indisch-amerikanische Künstlerin setzt ihren Fokus auf sensuelle Begegnungen von Körper und Umwelt. Der vierte, derzeit digital ausstellende Künstler bei Barbara Thumm ist der Brite Damien Roach. Sein Raum changiert zwischen Simpsons und niederländischem Blumenstillleben. Jede Arbeit fließt in die andere herüber, obwohl ihre Welten, die Zeiten aus denen sie stammen unüberbrückbar sein müssten. Comic meets Trompe-l’œil. Mit Damien Roach sind Zeitreisen möglich. Kaum einer digitalen Ausstellung gelingt es derart nah an einem realen Raum, einer wirklichen Galerie-Erfahrung anzuknüpfen.