In guten wie in schlechten Zeiten
Die Klosterruine präsentiert "Times in Crisis"

6. April 2020 • Text von

Über Social-Media-Plattformen erschließt sich ein neues Format. Die Berliner Klosterruine zeigt Videotagebücher von Künstler*innen, in denen Alltägliches und Künstlerisches verschwimmen.

Steven Warwick, Day 1, TIMES IN CRISIS, Klosterruine Berlin. Screenshot Youtube/TIMES IN CRISIS.

Große wie kleine Player der Kunstszene stellen ihr Programm inzwischen online zur Verfügung. Das macht Sinn, da die regulären Repräsentationsräume der Kunst – Museen, Galerien, Projekträume, Theater, Opernhäuser – geschlossen sind. Für uns ist das toll, denn es macht es einfacher, unserem kulturellen Alltag in Ansätzen wie gewohnt nachzugehen. Wenn auch mit feinen Unterschieden.

Wir wohnen Ausstellungseröffnungen nun bei – das heißt mehr Kunst-Gucken als Gallery-Hopping, mehr konzentriertes Augen-Zusammenkneifen als Weinschorle schlürfen, mehr Kontemplation als Socializing. Virtuelle Museumsstreifzüge verlaufen ungestört, nirgendwo stören Touristen mit Selfie-Sticks. Endlich können wir Lars Eidinger in den sonst grundsätzlich ausverkauften Shakespeare-Stücken in der Schaubühne bewundern. Wer möchte kann sich in einer Vielzahl an jemals im Kontext von Kulturveranstaltungen geführten Interviews oder Gesprächen verlieren oder tief eintauchen in die Ausstellungshistorie so mancher Lieblingsgalerie. Als Archiv, um Vergangenes wieder oder überhaupt zugänglich zu machen, funktioniert dieses Format gut. Schwieriger ist es, gegenwärtige und künftige Ereignisse digital zugänglich zu machen. Beim Versuch, unsere in vielen Teilen so analoge Welt ins Digitale zu übersetzen, stoßen wir an unsere Grenzen.

Viele Häuser haben daher ihre Ausstellungen verschoben oder abgesagt. Christopher Weickenmeier, Kurator der Klosterruine in Berlin Mitte, hat das geplante Sommerprogramm kurzerhand umgestellt. Unter dem Titel „Times in Crisis“ hat er verschiedene Künstler*innen eingeladen, Videotagebuch zu führen. Seit letzter Woche laufen sie auf dem Instagram-Account der Klosterruine und auf YouTube. Zu sehen sind Alltagsschnipsel. Ein Alltag, der in seiner Grundstruktur bei uns allen im Moment der gleiche ist. Wir sind zu Hause. Wir halten Abstand. Wir werden wahnsinnig. Wir braten Schinken – wie Steven Warwick (Charles Ives im Hintergrund ist eine willkommene Abwechslung). Wir starren Bäume an – wie Nick Koppenhagen. Eingesperrt in unsere Wohnungen begegnen wir unseren eigenen Dämonen – wenn sie auch nicht ganz so musikalisch sind wie bei Verena Buttmann. Andere Beiträge sind konzeptueller und zeigen den künstlerischen Umgang mit der Krise, der Isolation, der Überforderung. Julia Novacek hat ihre Spaziergänge gefilmt und die Natur digital verändert. Unser Blick streift über computeranimierte Wiesen, wobei die Geräusche ihres Atems und der Wind ganz real sind.

Elif Saydam & Maxi Wallenhorst, Day 4, TIMES IN CRISIS, Klosterruine Berlin. Screenshot Youtube/TIMES IN CRISIS.

Im virtuellen Raum des Internets regiert das Klickverhalten. Mögen wir uns sonst, unter den strengen Augen anderer Kunstbeflissener, zwingen die neueste Videoschöpfung junger Künstler*innen bis zum Ende anzusehen, heißt es hier „Klick und weiter“, und das im Bruchteil einer Sekunde. Je konzeptueller und abstrakter der Ansatz, desto geringer die Aufmerksamkeitsspanne. „Bei ‚Times in Crisis‘ gehe es darum, seine eigene Zeit zu markieren“, erklärt Christopher Weickenmeier. In einer Krise verschwimmen die Konturen unseres Zeitempfindens. Einerseits existiert da unser Alltag, der nun aufs Knappste bemessen, zum täglichen Eiertanz geworden ist. Dann gibt es so etwas wie das „Jetzt der Krise“, das in China schon vorüber, hier aber noch nicht erreicht sein soll. Wir bewegen uns in einer Gegenwart der Prognosen und Warnungen. Und schließlich stecken wir alle fest, in einer virtuellen Zeitlichkeit, einem sich andauernd erneuerndem, wachsendem Strom aus Nachrichten – dem Newsfeed unserer Zeit.

Meine Stimme, deine Stimme. Die kann ich hören, die kannst du verstehen. Wir alle versuchen zu verstehen, was gerade passiert. Welche sozialen, politischen, ökonomischen, ökologischen und finanziellen Folgen wird die Corona-Krise nach sich ziehen? Die Antworten sind zahlreich. Die Medien potenzieren sie ins Unendliche. Die Stimmen sind schätzend, warnend, hoffend. Nichts ist gewiss. Auch „Times in Crisis“ bietet nicht die eine Antwort, es zeigt uns lediglich Eindrücke der Gegenwart, wahrgenommen und gelebt von den eingeladenen Künstler*innen. Es geht dabei weniger um die Qualität der einzelnen Beiträge als um die Intention und den Ton des Experiments. Es spiegelt sich hier die Kernaufgabe von Künstler*innen – nicht nur unserer Zeit, sondern von jeher: Eindrücke in Ausdrücke verwandeln. Sie markieren damit ihre Zeit. Dabei zuzugucken bringt Freude.

WANN: Am Montag, den 6. April, startet Woche 3 des Programms von „Times in Crisis“ unter anderem mit Beiträgen von Magdalena Los, David Reiber Otalora und Lorenzo Sandoval.
WO: Online auf Instagram und auf Youtube.

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