Pausenknopf für die Hustle-Culture Künstlerische Interventionen im Rahmen von "Five Minutes (Late)"
30. September 2024 • Text von Gast
In Frankfurt laden Interventionen im öffentlichen Raum zu einer bewussteren Begegnung mit der eigenen Stadt ein. Das Projekt „Five Minutes (Late)“ tritt an, urbane Geschwindigkeit durch künstlerische Irritationsmomente zu entschleunigen. Kann Zuspätkommen zum subversiven Moment avancieren? (Text: Anna Marckwald)
Wohl kaum eine deutsche Stadt inkorporiert das kapitalistische Arbeitsethos so sehr wie Frankfurt. Ein steter Bewegungsstrom durchzieht die Straßen, unermüdlich brennen Lichter in dystopischen Türmen, die sich dem Himmel immer zahlreicher entgegenstrecken. Mantras wie „Höher, schneller, weiter“ oder „Zeit ist Geld” werden hier wörtlich genommen, das zeigt sich nicht nur in der Architektur.
Was wirtschaftlich für einige attraktiv daherkommen mag, hat gravierende soziale und psychologische Folgen: Begriffe wie Burn-out und „Hustle-Culture“ bestimmen nicht ohne Grund unser Vokabular. Psychologische Beratungsstätten werden insbesondere auch infolge von Leistungsdruck und mit diesem einhergehenden Überforderungs- und Überlastungserscheinungen konsultiert. Diese Eindrücke aus ihrem Berufsalltag teilt die Psychotherapeutin Maria-Magdalena Attenberger mit einer kleinen Gruppe, die sich an einem Freitagabend für ihren Vortrag „It’s NEVER TOO LATE for help“ im gemütlichen Ambiente des Lesezimmers im Hotel Nizza im Frankfurter Bahnhofsviertel zusammengefunden hat.
Die in Kooperation mit der psychotherapeutischen Beratungsstelle der Goethe-Universität Frankfurt am Main realisierte Veranstaltung ist Teil des umfangreichen Rahmenprogramms von „Five Minutes (Late)“, einer Interventionsreihe, die Vivien Kämpf im Rahmen ihres Studienabschlusses in Curatorial Studies, einem Kooperationsstudiengang zwischen der Städelschule und der Goethe-Universität, initiiert hat.
Auch die anderen Aktivitäten des Rahmenprogramms passen sich bewusst den Bedürfnissen und dem Rhythmus jener an, die das Projekt thematisch adressiert: die Getriebenen, die durch ihren Alltag und von Meeting zu Meeting hetzen – ein Gros der Frankfurter Bevölkerung also. Eine Lunchtour zu den Ausstellungsorten gibt es da zum Beispiel, für die sich auch im straffen Schedule eines Workaholics noch einen Slot finden lässt. Die Vernissage wurde, um den unliebsamsten aller Wochentage neu und positiver zu konnotieren, bewusst auf einen Montag terminiert.
Die künstlerischen Arbeiten selbst fungieren nicht als geschlossene Ausstellung, sondern als Reihe von Interventionen, verteilt über die Frankfurter Innenstadt. So bespielt Ziva Drvaric die Räumlichkeiten zweier Hotels, Aleksandar Radan unterschiedliche Buchläden, Moreno Schweikle eine Wäscherei in der B-Ebene der S- und U-Bahn-Station Hauptwache, Jakob Spengemann den Willy-Brandt-Platz und Eleni Wittbrodt ein hübsches Jugendstilhäuschen unweit des denkmalgeschützten Frankfurter Uhrtürmchens.
Alle Künstler*innen eint sowohl der Wunsch nach Verbindung mit ihrem jeweiligen Präsentationsort, dessen Funktion und Geschichte, als auch mit den Menschen, die ihnen dort en passantbegegnen. Die Strategie der Wahl, um auch den Blick jener auf sich zu ziehen, die gedanklich schon im nächsten Termin sind, lautet oftmals Irritation. Kleine Störmomente akustischer oder visueller Art durchbrechen das Alltagsrauschen in der Hoffnung, der eine oder die andere bleibe verwundert stehen, vergesse Zeitdruck und Effizenzbestreben, schaue auf und halte für einen Moment inne. Das Ausstellungsthema „Five Minutes (Late)“ wird zur Methode.
Eleni Wittbrodt, die an der Kunsthochschule Mainz studiert hat, hat für ihre Arbeit einen Schauplatz gewählt, der das Thema Zeit ganz direkt in sich trägt. Bei einem der vielen Spaziergänge durch Frankfurt, die Kuratorin Kämpf den Künstler*innen anbot, um die Stadt besser kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen Ausstellungsorte zu recherchieren, stießen die beiden auf das Frankfurter Uhrtürmchen. Ende es 19. Jahrhunderts diente es dem jüdisch geprägten Stadtviertel Ostend zur zeitlichen Orientierung für das Abendgebet.
Auf einer Kreuzung gelegenen und nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet, schmückt jede seiner Seiten ein rundes Ziffernblatt. Nur einen Sekundenzeiger sucht man darauf vergebens. War die zeitliche Minimaleinheit zu Bauzeiten schlicht weniger relevant? Obgleich seiner hohen Frequenz ist es der Sekundentakt, der dem Rhythmus des menschlichen Körpers, der Pulsfrequenz eines erwachsenen Menschen am ehesten entspricht. Das pochende Herz ist ein Zeitintervall, das jedem Körper – ganz unabhängig gesellschaftlich oktroyierter Tempi – inhärent ist.
Das Nachdenken über die Verschiebungen zwischen äußerer und innerer Zeitlichkeit werden für Wittbrodt zum Initialmoment ihrer eigens für den Ort geschaffenen Arbeit „Prototype for a one-second-signal“. Eine pulsierende Glühbirne übersetzt die unsichtbare Bewegung des nicht vorahnenden Uhrzeigers nun in Lichtsignale und erhellt im Sekundentakt das kleine Rundbogenfenster eines Jugendstilhäuschens in direkter Nachbarschaft des Uhrentürmchens, als würde sie geheime Morsezeichen in den Stadtraum senden.
Moreno Schweikle hat für seine Arbeit einen der frequentiertesten Orte der Stadt gewählt. In der B-Ebene der Station Hauptwache herrscht hektisches Treiben, jeder hechtet zur nächsten Bahn, nichts lädt zum Verweilen ein. Die kleine Wäscherei, die sich dort findet und für den Düsseldorfer Künstler zum Ausgangspunkt seiner Intervention „Fitting (B-Ebene)“ wurde, steht so auch symbolisch für eine Dienstleistungsgesellschaft, in der Haus- und Care-Arbeit zunehmend ausgelagert wird, um die kostbare Ressource Zeit gewinnbringend einzusetzen. Auf einer Stange im Inneren des Geschäftes reihen sich Anzüge aneinander.
Die niedrige Glasfassade der Wäscherei, die im Zuge des Umbaus der B-Ebene in den 1970er-Jahren ist und den Blick freigibt auf ein drehbares Wäscherondell, wird nun von einer brachialen, hölzernen Tür unterbrochen. Die massiven Holzbretter, aus denen sie zusammengezimmert ist, sind von Witterung und sichtlichem Alter gezeichnet. Mit groben Messingscharnieren versehen, mutet sie an wie eine Scheunentür im ländlichen Raum. Bei genauerem Hinsehen wird dieser Eindruck von einer Vielzahl silberner Spione widerlegt, die die Tür wie neuzeitliche Fremdkörper auf unterschiedlichsten Höhen durchsetzen.
Schauen Vorbeieilende durch die Gucklöcher, erhaschen sie einen Blick auf Bildmontagen, die die historischen Architektur-Renderings des sie umgebenden Raumes aus den 1970er-Jahren mit Snippets aus der zeitgleich entstandenen Zeichentrickserie „Heidi“ verbinden. Die japanische Animeproduktion, entstanden nach Romanen von Johanna Spyri, spielt immer wieder auch in Hessen. Frankfurt wird als die große Stadt, in die das Mädchen Heidi zu ihrem Leidwesen entsandt wird, als Antagonistin zur idyllischen Alm herangezogen. Das in Roman und Serienadaption geprägte Bild der Metropole wird so zur doppelten Projektion, das romantisierte Bild des ländlichen Raums bekräftigend. Schweikles Arbeit dreht die Perspektive gewissermaßen um und schafft ein Portal zwischen den Welten.
Am konsequentesten wird die künstlerische Methode der Irritation jedoch vielleicht in der Arbeit Jakob Spengemanns umgesetzt. Am Willy-Brandt-Platz, wo dem Finanzsektor mit Ottmar Hörls ikonischem Euro-Zeichen ein einschlägiges Denkmal gesetzt wurde, trifft Business auf Hochkultur. Die am Platz angesiedelte Frankfurter Oper überträgt ihren Sound über Lautsprecher regelmäßig in den öffentlichen Außenraum.
Spengemann, der an der Hochschule für bildende Künste Hamburg studiert hat, macht sich diese Disposition zu eigen. Wann immer keine Oper durch die Lautsprecher tönt, geben diese nun seine akustische Arbeit „A Show From Those In This Audience of One“ wieder. Tonaufnahmen verschiedener Publikumsgruppen nach Ende einer Aufführung schallen über den Platz. Passant*innen wird so wahlweise Jubel, Applaus oder Buhen zuteil, sie finden sich exponiert auf einem Platz wieder, der unvermittelt zur Bühne avanciert. Rollen, Hierarchien und Machtverhältnisse, die die Bewegungen durch den öffentlichen Raum bestimmen, werden so offengelegt und umgekehrt.
Was zunächst unangenehme Gefühle wie Scham evozieren mag, birgt dennoch das Potential, die städtischen Choreografien für eine Sekunde oder auch für fünf Minuten zu verändern. Vielleicht, wenn reichlich Bejubelte sich irritiert umschauen, und sich – durch die neue Rolle aus ihrer eigentlichen befreit – verwundert anlachen. Die individualistische Routine zu durchbrechen und innerhalb einer „Gesellschaft der Singularitäten“, die der Soziologe Andreas Reckwitz 2017 in seinem gleichnamigen Buch treffend attestierte, wieder Momente der Begegnung zu schaffen, tritt „Five Minutes (Late)“ jedenfalls an. Für mehr Gemeinschaftlichkeit und weniger Effizienz – eine Ode auf das zu Spätkommen!
WANN: Künstlerische Interventionen im Rahmen von „Five Minutes (Late)“ sind bis Sonntag, den 13. Oktober, zu sehen.
WO: An verschiedenen Orten in Franfurt am Main. Eine Karte mit Veranstaltungsorten und -Zeiten gibt es auf dem Instagram-Account von „Five Minutes (Late)“.