Ich war hier
Hudinilson Jr. bei KOW

29. Mai 2025 • Text von

Der brasilianische Künstler Hudinilson Jr. lebte während der Militärdiktatur im queeren Untergrund São Paulos. In einem Klima politischer Repression wird jede Geste der Sichtbarmachung zur Provokation. Die häufig nackte Darstellung seines Körpers hatte eine doppelte Funktion: als sexualisierte Geste und als Akt der Normalisierung. KOW zeigt seine “Exercícios de me ver”, mit denen er seinem Körper in die Geschichte der Körperdarstellungen einschrieb.

Hudinilson Jr., ‘Exercícios de me ver’ installation view at KOW, 2025, courtesy of the Estate of Hudinilson Jr., Martins&Montero, and KOW, Berlin. Photo: Ladislav Zajac.

In einem Essay über Hudinilson Jr. heißt es: “Like Narcissus, Hudinilson was fascinated by his own image.” Die Geschichte von Narziss handelt von einer Person, die gleichermaßen selbstverliebt wie dessen nicht bewusst war. Im Anblick seines Spiegelbildes im Wasser sah er nicht sich selbst, sondern jemand anderen – und verliebte sich in dieses unbekannte Ebenbild.

Im Gegensatz zum mythologischen Narziss, der im Wasser nicht sich selbst, sondern einen Anderen zu erkennen glaubte, wusste Hudinilson Jr. um die Unmöglichkeit der Selbstwahrnehmung. Auf seiner gleichermaßen introspektiven wie experimentellen Suche nach dem eigenen Körper steht der Versuch, immer näher an sein Spiegelbild zu kommen, bis er dessen Oberfläche berührt. Dies resultiert in seiner 1981 beginnenden Werkserie der “Exercícios de me ver” (“Übungen der Selbstbeobachtung“) – gleichermaßen Titel seiner aktuellen Ausstellung bei KOW – seinen fragmentierten Körperstudien, die er mittels Fotokopierer anfertige.

Hudinilson Jr., ‘Exercícios de me ver’ installation view at KOW, 2025, courtesy of the Estate of Hudinilson Jr., Martins&Montero, and KOW, Berlin. Photo: Ladislav Zajac. // Hudinilson Jr., documentation of the performance “Narcisse” Exercício de Me Ver II (Exercise of seeing myself II), 5 parts, detail, 1982, courtesy of courtesy of Hudinilson Jr. Estate, Martins&Montero, and KOW, Berlin.

Ein behaarter Brustkorb, eine angeschnittene Augenpartie, offene Handflächen, der Blick von unten auf Kehlkopf und Kiefer: Die Glasfläche des Kopierers wird bei Hudinilson Jr. zur tastenden Oberfläche des Wassers. Mittels Vergrößerungsfunktion der Maschine nahm er die fragmentierten Abbilder seines Körpers und montierte die dabei entstehenden Motive in einem zweiten Arbeitsschritt zu Gegenüberstellungen und überlappenden Kompositionen. Wie bei Oscar Wildes Dorian Gray, dessen gemaltes Portrait zur Projektionsfläche innerer Konflikte, Sehnsüchte und Abgründe wird, sind auch Hudinilson Jr.s Selbstabbildungen nicht nur Dokumente, sondern Wunsch- und Spiegelbild.

Mit zwanzig Bildern pro Minute gewann der Fotokopierer als Medium der schnellen und günstigen Bildproduktion in den 1970er Jahren in der brasilianischen Kunstszene an Bedeutung. Entscheidend für Hudinilson Jrs. Arbeitsweise war nicht nur die Möglichkeit der Reproduktion, sondern auch der physische Kontakt der Maschine mit dem spezifischen Licht, das den Körper durchdringt und die Berührung im Bild sichtbar macht. Besonders spürbar wird dies in seinen sogenannten “Xerox Actions“, in denen beispielsweise eines seiner Motive die leicht vom Glas eingedrückte Wange des Künstlers zeigt.

Hudinilson Jr., Untitled, 1980s, courtesy of Hudinilson Jr. Estate, Martins&Montero, and KOW, Berlin.

Hudinilson Jr. wechselt immer wieder zwischen der Rolle des Darstellenden, des Beobachtenden und des kategorisierend Sortierenden. Dies wird besonders in seinen Collagen sichtbar. In den von ihm genannten “Referenzbüchern” verbindet er Fotokopien und Skulpturen, antike Bilder und mythologische sowie religiöse Referenzen mit explizit sexualisierten Darstellungen zeitgenössischer Personen.

In seinen Kompositionen finden das das Göttliche und das Profane aufeinander: Darstellungen von Jünglingen wie David oder den heiligen San Sebastian kombiniert er mit brasilianischen Popkulturstars aus Film, Musik und Theater. “Untitled” zeigt eine aufgefaltete Packung Gauloises, deren Cover den geflügelten Helm des Hermes abbildet. In den Darstellungen aus homoerotischen Magazinen und Werbemittel sind die Gesichter oft entweder durch Perspektive, Anschnitt oder bewusste Verdeckung unkenntlich gemacht oder von dem Künstler angeschnitten: Der Fokus liegt klar auf Körperfragmenten wie Armen, Oberkörpern oder Lippen, was gleichermaßen Intimität schafft, wie auch symbolische Wirkung.

Hudinilson Jr., ‘Exercícios de me ver’ installation view at KOW, 2025, courtesy of the Estate of Hudinilson Jr., Martins&Montero, and KOW, Berlin. Photo: Ladislav Zajac. // Hudinilson Jr., Untitled, 1980s, courtesy of Hudinilson Jr. Estate, Martins&Montero, and KOW, Berlin.

Die voyeuristische Perspektive auf sich selbst kontrastiert Hudinilson mit dem repressiven Klima staatlicher Überwachung und Zensur. Seine künstlerische Praxis muss im Kontext der brasilianischen Militärdiktatur gelesen werden, in der die Sichtbarkeit homosexueller Identitäten kriminalisiert war. Hudinilson lebte in São Paulo, wo er ab den späten 1970er Jahren als Underground-Künstler aktiv war, unter anderem im Kollektiv 3NÓS3, das er gemeinsam mit Mário Ramiro und Rubens Mano Roba gründete. Mit politischen Interventionen im öffentlichen Raum machte das Kollektiv auf sich aufmerksam. Gleichzeitig zu seinen politisch motivierten Aktionen im städtischen Raum erscheinen seine Körperstudien weniger als explizit politischer Akt, sondern als Geste der Selbstermächtigung oder Bewusstwerdung, die dennoch seinen gelebten Alltag in der Community der queeren Nachtszene São Paulos aufgreift.

Hudinilson Jr., from left to right: Untitled, 1980, Untitled, 1980s, and Untitled, 1980s, installation view at KOW, 2025, courtesy of the Estate of Hudinilson Jr., Martins&Montero, and KOW, Berlin. Photo: Ladislav Zajac.

Das Erheben eines Bildes von sich selbst, und sich dadurch in die Geschichte einzuschreiben, wird hier zu einem Akt der Sichtbarmachung, aber auch der Hybris. In den teilweise überlebensgroßen Skalierungen seiner Arbeiten erhebt Hudinilson nicht nur seinen eigenen Körper, sondern auch den seiner Umgebung. Alltagsgegenstände und Kleidung erfahren eine sakrale Aufladung, fast wie Reliquien. Die Pose wird bei ihm zum Denkmal, als profaner wie politischer Wunsch, unsterblich zu werden.

WANN: Die Ausstellung “Exercícios de me ver” läuft noch bis Samstag, den 26. Juli.
WO: KOW, Kurfürstenstraße 145, 10785 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin