Von einer anderen Welt Hicham Berrada in der Stadt Galerie Sindelfingen
21. November 2024 • Text von Julia Anna Wittmann
Der Künstler als Weltenschöpfer: Hicham Berrada kreiert mit Hilfe chemischer Stoffe und physikalischer Reaktionen analoge Mikrokosmen, bevölkert mit amorphen Wesen in Science-Fiction-Optik. Seine Einzelausstellung “Aléas” in der Stadt Galerie Sindelfingen setzt sich aus Rauminstallationen, Videoarbeiten, Skulpturen und einer immersiven 360°-Projektion zusammen.
Die Arbeiten von Hicham Berrada öffnen Fenster in eine andere Welt. In einem dunklen, übergroßen Terrarium wuchern undefinierbare, fleischfarbene Objekte neben realen Pflanzen. Dichte Rauchschwaden ziehen über mystische, mineralische Landschaften bestückt mit kleinteiligen, amorphen Figuren. Eine immersive 360°-Projektion zeigt einen Wassertank gefüllt mit schnell wachsenden Organismen. Berradas Einzelausstellung “Aléas” in der Stadt Galerie Sindelfingen ermöglicht den Einblick in die ästhetische Qualität chemischer Prozesse, die der Künstler bewusst herbeiführt.
Die “Chambre Climatique” ist ein über zwei Meter hohes, mit dunklem Glas verkleidetes Terrarium, wie es für die Haltung verschiedener Tiere und Pflanzen verwendet wird. Der mit LED Lichtern beleuchtete Innenraum beherbergt keine uns bekannten Lebewesen, lediglich verschiedene Farne sind zu erkennen. Dazwischen versammeln sich Objekte, deren organische Formen an Gestalten aus einer anderen Welt erinnern – vertraut und trotzdem fremd. Es handelt sich um 3D-gedruckte Skulpturen bestehend aus Polymilchsäure – kurz PLA – einem kompostierbaren Rohstoff aus Maisstärkebasis.
Das Terrarium fungiert als hermetisches Ökosystem mit hoher Luftfeuchtigkeit und intensiver UV-Strahlung. Über die Dauer der Ausstellung simuliert Berrada den Verfall der amorphen PLA-Skulpturen im Laufe der Zeit. Die klimatischen Bedingungen im Inneren der Kammer beschleunigen die Zersetzung der Objekte und verwandeln die 3D-Drucke in organische Masse – das technologische Produkt wird wieder Teil des Mineralreichs und in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt. Die Schaukastenstruktur der Werkserie “Cartes mères” erinnert ebenfalls an kleinformatige Terrarien, gefüllt mit uns unbekannten Mikrokosmen.
Wie im Moment festgefroren wirken die dichten Rauchschwaden, die sich hinter der mit LEDs beleuchteten Scheibe des Glaskastens aufbäumen. Am Boden des Objekts sprießen kleine, pflanzenartige Gebilde und erzeugen den Eindruck einer mystischen Landschaft. Auch hier ist der Ausgangspunkt der ästhetischen Komposition ein technologisches Produkt. Um die hermetischen Mikrokosmen zu erzeugen, taucht der Künstler Hauptplatinen von Computern in elektrolytische Bäder und verfestigt die mineralischen Landschaften anschließend in Harz.
Die visuelle Qualität solcher chemischen Reaktionen und physikalischen Prozesse steht auch im Vordergrund der 8-Kanal-Videoarbeit “Présage 07/07/2024 14h18”. Die 360°-Videoinstallation ermöglicht ein wortwörtliches Eintauchen in Berradas Arbeit. Zu sehen ist die übergroße Aufnahme des Bodens eines mit einer wässrigen Lösung gefüllten Wassertanks. Immer wieder fügt der Künstler verschiedene Mineralien hinzu und erzeugt chemische Reaktionen. Grüne, blaue, lilafarbene und rosafarbene Gebilde schießen aus dem Boden, wachsen in alle Richtungen und bilden ein buntes Konglomerat aus lebendig wirkenden Gestalten.
Die Arbeiten im Ausstellungsraum scheinen einige Kapitel in der Evolution übersprungen zu haben: Die hermetischen Welten werden von unbekannten, amorphen Gestalten bewohnt, die an Sci-Fi-Landschaften und weit entfernte Planeten erinnern. Auch wenn der Titel der Ausstellung “Aléas” aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt “Zufall” bedeutet, handelt es sich bei den von Hicham Berrada geschaffenen Welten nicht um zufällig entstandene Mikrokosmen. Der Künstler fungiert selbst in der Rolle des Weltenschöpfers, indem er ökologische Prozesse initiiert, orchestriert und manipuliert. Berrada führt uns dabei vor Augen, dass selbst der Zufall ein Ergebnis gezielter Eingriffe und bewusst gesetzter Impulse sein kann.
WANN: Die Ausstellung “Aléas” läuft bis Sonntag, den 16. Februar.
WO: Galerie Stadt Sindelfingen, Marktplatz 1, 71063 Sindelfingen.