Vornehm funkelnde Vergänglichkeit Hélène Fauquet in der Galerie Max Mayer
2. Oktober 2024 • Text von Gast
In der Galerie Max Mayer lädt die Einzelausstellung „Sensoria“ der französischen Künstlerin Hélène Fauquet zur sinnlichen Reflexion über Zeit, Erinnerung und dem eigenen Unterbewusstsein ein. Surrealistische Objekte verbinden Meerestiere mit Fotographien und persönliche Souvenirs mit theoretischen Überlegungen. (Text: Anna Marckwald)
Wer dieser Tage die Stufen in den kühlen, fensterlosen Bauch des Düsseldorfer Schmela Hauses in den Ausstellungsraum der Galerie Max Mayer hinunterwandelt, vernimmt schon von Weitem ein vornehmes Funkeln. Eine Variation präzise gehängter, glamouröser Bilderrahmen schillert, das künstliche Licht reflektierend, mit auf diesen applizierten Muscheln um die Wette. In den Arbeiten Hélène Fauquets verbindet sich der artifizielle Glanz von Schmucksteinen, Plastikperlen und Spiegelelementen mit der subtileren, weil natürlichen Dekadenz fein irisierenden Perlmutts.
Beide heben sich bestimmt vom schroffen Grau der rohen, unverputzten Betonwände ab. Mit der Abwärtsbewegung, der Abwesenheit von Sonneneinstrahlung und der gefühlt sinkenden Temperatur ist man in dem mit seinen monolithischen Säulen und Terrassenplateaus tempelartig anmutenden Raum versucht, sich in einer Muschelverkleideten Renaissance-Grotte zu imaginieren. Oder in ihrem neuzeitlichen, minimalistischen Reenactment.
Durch den Raum schreitend, ergeben sich immer neue Blickachsen und Perspektiven, bis Besuchende den kleinformatigen Arbeiten, die Fauquet eigens für die Ausstellung geschaffen hat, schließlich direkt gegenüberstehen. Manche der ornamentalen Rahmen wirken wie nostalgische Fundstücke von Flohmärkten oder aus Antiquitätengeschäften, bei anderen scheint es sich um Neuware zu handeln. Schmetterlingsapplikationen und Glitzer tendieren gen Kitsch. Keine Rahmen aus dem Ausstellungsbedarf sind das, vielmehr aus dem privaten Kontext. Solche nämlich, in denen man – auf dem Kaminsims oder auf der Fensterbank arrangiert – üblicherweise Porträts der Liebsten oder der Verwandtschaft vermuten würde.
Hier nun aber: Muscheln und Schnecken unterschiedlichster Formen, die, auf das Glas geklebt, nachträglich angefügt wurden. Mal wachsen sie wie surrealistische Fremdkörper aus der Bildmitte, mal scheint der Rahmen sie zu umschließen und seiner eigentlichen Funktion entsprechend einzufassen. Schützend wölben die Panzer der Schalentiere sich über das Glas, die robuste Seite wehrhaft nach außen gewandt. Das Bild wird zur Skulptur.
Bei genauerer Betrachtung geben manche der Muscheln den Blick frei auf das, was da zunächst hinter ihnen verborgen bleibt: Makrofotografien eingefärbter Flüssigkeiten und Tinkturen, die durch die unter dem Glas in ihrer Bewegung eingefangen scheinen. Dem mikroskopischen Blick auf die Petrischale ähnelnd tummeln sich hinter den Scheiben Formationen von blassblauen Bläschen und hellgrünem Schaum, auf einem der Fotos scheint sich eine königsblaue Lösung sukzessive auszubreiten.
Die fotographische Beschäftigung mit Flüssigkeit ist kein Novum im Werk der französischen Künstlerin Hélène Fauquet, die bis 2009 an der französischen École Supérieure des Beaux-Arts Valenciennes und bis 2014 an der Städelschule in Frankfurt am Main studierte. Ursprünglich inspiriert von der Werbung für ein Schönheitsserum taucht ein verwandtes Motiv – ein schwereloser metallischer Tropfen – erstmals 2022 auf dem Poster der Ausstellung „Vivresse“ im Offspace Alienze in Wien auf.
In „Phenomena“, einer Einzelausstellung Fauquets im Kunstraum Glarus dann wurden die Aufnahmen 2023 zum zentralen Thema. Die Bilder, die in ihrer anonymen, klinischen Ästhetik an Stockimages des frühen Internets erinnern mögen, fotografiert Fauquet mit Makroobjektiv selbst. Präsentiert in ähnlich glamourösen Rahmen wie bei Max Mayer, wurden sie in Glarus auf schlichten Tischen zu Bildgruppen gruppiert. Jeder Tisch schuf so eigenes Ordnungs- und Wissenssystem, eine eigene Ausstellung in der Ausstellung.
Eine dieser Tischinstallationen trug den Namen „Sensoria“. Dieser Titel, den sich die Düsseldorfer Ausstellung nun entleiht, rekurriert auf eines der zentralen Themen im Werk Fauquets: das Auge als taktiles Sinnesorgan, als Instrument des Einfangens und Speicherns von Bildern und Erinnerung. Gleichsam adressieren ihre Arbeiten das Verlangen nach der Übertragung dieser Kompetenz in die Fotographie und nach der Konservierung von Zeit im Bild: einem Wunsch, der sich jedoch als unerfüllbar entpuppt. „Fotographien [vermitteln] dem Menschen den imaginären Besitz einer Vergangenheit […], die unwirklich ist“, stellte Susan Sontag 1977 in ihrer Essaysammlung „Über Fotographie“hinsichtlich dieses Dilemmas fest.
Wohl kaum ein Aggregatzustand kommt der Flüchtigkeit und Unstetigkeit von Erinnerung so nah, wie der flüssige. Zugleich lassen die Blasen und Tropfen, die Fauquet wie Platzhalter für Ahnenporträts liebevoll um sich schart, erahnen, wie kurzweilig und subjektiv die Bedeutung verdinglichter Erinnerungen ist, wie abhängig von der sie verbindenden Person. Nur in ihr manifestieren sich ihre Provenienz und damit Bedeutung. In ihrer 2019 erschienenen autofiktionalen Erzählung „Nach der Erinnerung“ beschreibt Maria Stepanova eine solche Erfahrung im Moment des Betretens der Wohnung ihrer verstorbenen Tante: „Zwischen diesen Dingen bestand ein fragloser Zusammenhang, sie alle hatten nur im gemeinsamen Rahmen eines unabgeschlossenen Lebens Sinn und Bedeutung gehabt und zerfielen jetzt vor meinen Augen zu Staub.“
Ganz ähnlich verhält es sich mit Fauquets Objekten: den Rahmen aus ihrer privaten Sammlung, den Muscheln, die sie über Jahre als Souvenirs zusammentrug. Nur welche Anekdote, welcher Moment, welcher Fundort mit den Meerestieren möglicherweise einst in Verbindung stand, bleibt Betrachtenden verborgen. Mit dem Eintritt in den Ausstellungsraum werden sie ihrem ursprünglichen Kontext, ihrer symbolischen, womöglich sentimentalen Konnotation enthoben. Vielmehr appellieren die Skulpturen an die Assoziationen des Einzelnen, lassen sich befüllen mit subjektiven Bedeutungen. Aus Objects Trouvés kreiert Fauquet surrealistische Neuschöpfungen. Viele ihrer Titel sind den lateinischen Bezeichnungen der Muscheln, die sie zieren, entlehnt. Dann wieder brechen poetische Titel wie „the riddle of the night“die biologische Ordnung.
Immer wieder verschränken sich im Werk Fauquets Logik und Poetik, äußere und innere Ordnungssysteme, Bewusstsein und Unterbewusstsein. Das Streben nach dem Bewahren und Festhalten von etwas kaum Greifbarem, die Suche nach dem System im Surrealen prägte auch die Gründungsjahre der namensverwandten Strömung. Im „Bureau de Recherche Surréalistes“, 1924-25in der Pariser Rue Grenelle angesiedelt, befanden sich zwei Räume: Einer davon barg das sogenannte „Archiv des Unterbewussten“. Allmorgendlich schrieben die Mitglieder der Gruppe um André Breton ihre Träume nieder, um sie dann in das Klassifizierungssystem zu fügen und das Flüchtige festzuhalten.
Ein weiterer Pariser, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts verzweifelt versuchte, das Vergängliche zu konservieren, war der Schriftsteller Marcel Proust. In seinem großen Erinnerungs-Epos„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zeichnete Proust sein eigenes Leben labyrinthhaft nach. Lesende des zweiten Teils „Im Schatten junger Mädchenblüte“, erschienen 1919, begleiten den jungen Marcel in der Zeit seines Heranwachsens: Bei einer Reise mit seiner Großmutter an die normannische Küste, in das mondäne Badestädtchen Balbec erlebt Marcel erstmals amouröse Gefühle.
Auf dem Buchcover einer französischen Ausgabe des Romans sind zwei Bilderrahmen abgebildet. Leicht versetzt aufgestellt zeigen sie Fotos einer jungen Frau vor maritimer Kulisse. Einige Muscheln, wie es scheint Souvenirs des gerahmten Moments, liegen verstreut davor. Subtile literarische oder kunsthistorische Referenzen wie diese verweben sich im Werk Fauquets mit einer Glam-Ästhetik, die Erinnerungen an die 90er und Nuller Jahre weckt.
„Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre Rechte einzutreten“, erklärte Bréton 1924 im, die Strömung begründenden, „Manifest des Surrealismus“. Auch die Arbeit Hélène Fauquets appelliert an diese Kraft. Sie verwehrt sich einer klaren Lesart und schnellen Antworten. Schicht um Schicht muss abgetragen, die subjektiven Bedeutungsebenen müssen seziert, die Trennung zwischen Außen und Innen sukzessive aufgelöst werden, um eine kleine Vorstellung davon zu erlangen, was die Schalentiere in ihren Behausungen, die gleichsam Panzer sind, bergen. Mit etwas Geduld kann sich so ein psychoanalytisches Zwiegespräch mit dem Werk eröffnen, das möglicherweise das ein oder andere Proust’sche Madeleine-Erlebnis bereithält, sicher aber zu Introspektion anregt – spätestens, wenn man in einem der verspiegelten Rahmen dem eigenen Spiegelbild entgegenblickt.
WANN: Die Ausstellung “Sensoria” von Hélène Fauquet läuft bis Samstag, den 19. Oktober.
WO: Galerie Max Mayer, Mutter-Ey-Straße 3, 40213 Düsseldorf.