Going to the Movies
„Indistinct Chatter“ bei Emanuel Layr

18. März 2021 • Text von

Die Gruppenausstellung widmet sich dem Thema Film, ohne ein einziges bewegtes Bild zu zeigen. Dabei wird die Präsentation selbst zum Experimentalfilm, der mit konventionellen Erzählstrukturen und Sehgewohnheiten bricht – und das auch noch mit Happy End.

Filmplakat-Skulptur von Lili Reynaud-Dewar mit dem Titel Beyond the Land of Minimal Possessions
Lili Reynaud-Dewar, Beyond the Land of Minimal Possessions (Monument to Joana Castilhos) (detail), 2018, glass, silk, lacquered metal, 193 x 75 cm, Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artist and LAYR, Vienna.

Die Gruppenausstellung mit Monika Baer, William Leavitt, Matt Mullican, Lili Reynaud-Dewar, Lise Soskolne, Masha Tupitsyn, Robin Waart und Yong Xiang Li widmet sich dem Thema Film, ohne Filme im klassischen Sinn zu zeigen. Die Galerie erscheint auf den ersten Blick wie das Foyer eines Kinos mit Bildplakaten, Werbeaufstellern und einem Vorhang zum Kinosaal. Ohne Video- oder Filmkunst zu präsentieren, geht die Ausstellung filmischen Mitteln, bildgestalterischen und szenischen Elementen des Kinos nach und reflektiert dabei die Perspektive der Kamera oder die Politik von Dialogen. Was macht einen Film eigentlich aus, wenn das bewegte Bild abwesend ist? Die Ausstellung „Indistinct Chatter“ inszeniert Filmisches anhand von Tonspuren und Untertiteln, Standbildern und alternativen Erzählstrukturen abseits der Konventionen des bewegten Bildes und der Sehgewohnheiten des Publikums. Dabei sind es die Besucher*innen selbst, die Zeitlichkeit, Bewegung und Performativität in den Ausstellungsraum bringen.

Installationsansicht "Instinct Chatter" bei Emanuel Layr, 5. März - 10. April 2021 Wien mit Werken vin Lise Soskolne und Robin Waart
Installationsansicht “Indistinct Chatter” bei Emanuel Layr, 5. März – 10. April 2021. Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artists and LAYR, Vienna.

Die Arbeit „Beyond the Land of Minimal Possessions (Monument to Joana Castilhos)“ (2018) von Lili Reynaud-Dewar, ein Filmposter in einer freistehenden roten Halterung, fällt vor dem giftgrünen Vorhang sofort ins Auge. Man erkennt eine Person mit Cap, die von einer Zombie-Gestalt überblendet wird. Es ist ein Filmposter zu Reynaud-Dewars Film „Beyond the Land of Minimal Possessions“, den die Künstlerin 2018 mit einer Gruppe von Student*innen in Marfa (USA), zunächst als Dokumentation der Studienreise, drehte. Während ihres Aufenthalts an diesem abgelegenen Ort in der texanischen Wüste widerfahren der Gruppe jedoch höchst seltsame Dinge, bis hin zum Verschwinden eines Studenten. Gleichzeitig werden sie Zeug*innen der Ausbeutung durch den Tourismus, der im Kontrast zum Minimalismus dieser von der Kunst Donald Judds geprägten kleinen Stadt steht. Der Film wird zur Horrorkomödie, die von der Komplexität der Kunst, der Gentrifizierung und Emanzipation handelt. Das Werk in der Ausstellung basiert auf der wahren Begebenheit dieser Filmproduktion. Die doppelte Darstellung der Studentin Joana Castilhos in und außerhalb ihrer Rolle verdeutlicht den Moment, in dem die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion undeutlich wird.

Installationsansicht von Masha Tupitsyns Love Sounds in der Galerie Layr
Masha Tupitsyn, Love Sounds, 2015, Video, 24:00:00, Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artist and LAYR, Vienna.

Wie hört sich eigentlich Liebe an? Hinter dem Vorhang, wo sich der Kinosaal vermuten ließ, ist kein Film zu sehen, aber zu hören. Die New Yorker Künstlerin Masha Tupitsyn hat über 1500 Liebesszenen aus rund 80 Jahren englischsprachiger Kinogeschichte gesammelt und daraus eine 24-Stunden-Audioerzählung gemacht. Die Liebesszenen sind in acht Abschnitte wie „Falling in Love“, „Sexual Politics“ oder „Break-ups“ unterteilt. Zu sehen ist jeweils lediglich eine Projektion des aktuellen Abschnitttitels, aber zu hören ist eine Sound-Collage aus Liebeserklärungen, Beziehungsstreiten oder Versöhnungsgesprächen. Die Arbeit „Love Sounds“ (2015) erkundet Liebe als akustisches Phänomen und stellt das starke visuelle Vermögen des Kinos auf den Kopf – oder lässt dadurch erst das Kopfkino beginnen. Tupitsyn liefert mit dieser Arbeit die Geräuschkulisse der Ausstellung „Indistinct Chatter“, die beim Betreten der Galerie zunächst als undeutliches Gespräch erklingt.

Leinwand von Lise Soskolne mit gemaltem Text aus Chantal Ackermanns Film Jeanne Dielman
Lise Soskolne, Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1998/2020, oil on canvas, 152,4 x 243,8 cm, Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artist and LAYR, Vienna.

Lise Soskolne bezieht in ihre Malerei zahlreiche filmische Referenzen ein, in dem sie das Verhältnis von Bild und Sprache auf der Leinwand und die Repräsentation von filmischen Inhalten erkundet. Das Werk in der Ausstellung bezieht sich auf den Film „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ der belgischen Regisseurin und Künstlerin Chantal Akerman aus dem Jahr 1975. Die Handlung des Films zeigt drei Tage aus dem Leben einer verwitweten Hausfrau, deren alltägliche Tätigkeiten routiniert, geordnet bis zwanghaft erscheinen. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Prostitution, die ebenso unaufgeregt durchgeführt wird, bis sie am dritten Tag einen ihrer Freier ersticht, nachdem sie einen Orgasmus hatte. In Soskolnes Leinwand verschränken sich der Filmtitel und Einblendungen der zeitlichen Ordnung des Films in englischer und französischer Sprache. Der strukturierte Tagesablauf im Film scheint sich in den parallelen Zeitangaben „End of first day End of second day“ widerzuspiegeln, während Soskolne mit verschiedenen Typografien und Sprachen experimentiert und die Grenze zwischen gemalter Leinwand und Kinoleinwand verschwimmt.

Konzeptuelle Textarbeit von Matt Mullican beschreibt das Leben eines fiktiven weiblichen Charakters von der Geburt bis zum Tod
Matt Mullican, Untitled (Birth to Death List), 2020, Print on paper (detail shot), Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artist.

Von Matt Mullican hängt eine große Papierarbeit mit Text an der Wand – ein Drehbuch? Der Künstler erzählt die Lebensgeschichte eines fiktiven weiblichen Charakters in kurzen Hauptsätzen, wie Momentaufnahmen, die von der Geburt bis zum Tod und von alltäglichen Banalitäten zu einschneidenden Erlebnissen reichen. Unweigerlich zieht beim Lesen von oben nach unten ein Film vor den Augen der Besucher*innen in Zeitraffer vorbei und man hat das Gefühl selbst gerade an einer bestimmten Stelle der Handlung zu stehen. Mullican zeigt in dieser konzeptuellen Textarbeit, wie ein filmischer Prozess entsteht und das auch ohne ein bewegtes Bild, Regieanweisung oder Szenenbild.

Robin Waart Postkarte mit einer Filmszene aus Taxi Driver
Robin Waart, Would you… (detail Taxi Driver, Martin Scorsese US 1967, 00:25:25), 2012, set of 16 postcards of movie moments inviting you to go out, 14.8 × 10.5 cm each, installation on card rack, approx. 170 × 27 cm.

Der zwischen Amsterdam und Wien lebende Künstler Robin Waart ist in der Ausstellung mit einem Werk vertreten, das einzelne Filmstills mit Untertiteln als Postkarten zeigt. Auf einem drehbaren Postkartenständer sind 16 unterschiedliche Szenen ausgestellt und zeigen Klassiker wie „Breakfast at Tiffany’s“, „Taxi Driver“ oder „Superman“. Der Künstler hat immer Momente ausgewählt, in denen eine Person fragt, gemeinsam auszugehen. In Waarts Werk „Would you…“ (2012) treffen sich gefundene Bilder aus der Filmgeschichte, die sich alle einem der wichtigsten Themen auf der Leinwand überhaupt widmen. In den Untertiteln verdeutlicht sich Liebe als sprachliches Ereignis, darüber hinaus ist es interessant die Mimik der Protagonist*innen und die Kameraperspektive in diesem sozialen Wendepunkt – mit der Hoffnung auf ein Date – im Standbild genauer zu betrachten.

Installationsansicht "Instinct Chatter" bei Emanuel Layr, 5. März - 10. April 2021, Wien mit Werken von Robin Waart, Monika Bear und Lili Reynaud-Dewar
Installationsansicht “Indistinct Chatter” bei Emanuel Layr, 5. März – 10. April 2021. Photo: kunst-dokumentation.com, Courtesy of the artists and LAYR, Vienna.

Als Erweiterung der Ausstellung gibt es einen Podcast mit wöchentlich neu erscheinenden Episoden, in dem die Kuratorin Pia-Marie Remmers mit den einzelnen Künstler*innen über ihre Werke spricht. Der Podcast steht über die Website der Galerie oder direkt auf Soundcloud zu Verfügung. 

Der Trailer der Ausstellung versprach nicht zu viel, als er ankündigte, Filmkunst ohne Film sehen zu können. In den Werken wird der Kern des Kinematografischen reflektiert und die Erwartungshaltung an ein unterhaltsames Filmprogramm neu definiert. Als Happy End sehen wir einen gelungenen Experimentalfilm, der andere Ausdrucksweisen erforscht und den Blick für Neues öffnet – mit Lovestory und Zombie-Einlage, also alles was ein guter Film eigentlich braucht.

WANN: Die Ausstellung läuft noch bis Samstag, den 8. Mai 2021.
WO: Bei LAYR, Seilerstaette 2, 1010 Wien, Österreich.

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