Körper als Kampfzone
Gisèle Vienne im Haus am Waldsee & Georg Kolbe Museum

11. Oktober 2024 • Text von

Vorhang auf, hier wird’s unheimlich: Die Künstlerin, Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne ist Gesellschaftsbeobachterin, studiert Körper, Blicke und Gefühle. Als Joint Venture zeigen das Haus am Waldsee und das Georg Kolbe Museum Puppen, Fotografien und Filme der Künstlerin, die nachdenklich stimmen und dem Nährboden von Gewalt, Selbst- und Fremdbestimmung auf den Grund gehen.

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Installationsansicht Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Foto: Frank Sperling.

Mit “This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play” zeigt das Haus am Waldsee derzeit die erste Einzelausstellung der französisch-österreichischen Künstlerin, Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne, die im Rahmen der diesjährigen Berlin Art Week eröffnet wurde. Lebensgroße Teenager-Puppen in Hoodies, Traningsjacken und Jeans werden in einer eigens für das Museum entwickelten Inszenierung präsentiert und durch Fotoserien weiterer Puppen ergänzt. Sie sind die Grundlage für ihre Tanztheaterproduktionen, die Vienne in den letzten 25 Jahen entwickelt hat.

Dabei zieht sich eine unheimliche Stille und Regungslosigkeit durch die Räume – die Blicke der leblosen Körper wirken gedankenversunken, vertieft in ihrer eigenen Welt, suchen keinen Kontakt zu den Besucher*innen. Sie werden zu stillen Beobachter*innen, die wie durch ein Schlüsselloch blicken und sich fragen, was die Protagonist*innen der Ausstellung wohl umtreibt, was ihnen widerfahren ist. Über 100 Puppen hat Vienne im Laufe ihrer Karriere bereits geschaffen. Ihre Köpfe sind aus Ton und mit Acrylfarbe bemalt. Was die Puppen der Ausstellung vereint? Ihre Jugendlichkeit. Wie in einem Stillleben hat die Künstlerin Chipstüten, Dosen und Snacks um die Teenager herum auf dem Boden arrangiert, sie stehen, sitzen oder liegen, manche verstecken sich unter Kapuzen oder hinter Perücken. Eine Gruppe wird wie in gläsernen Särgen im Ausstellungsraum aufgebahrt. Alles ist genauestens komponiert, nichts dem Zufall überlassen.

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Installationsansicht Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Foto: Frank Sperling.

Das Thema, das die Künstlerin in ihrer Arbeit um- und antreibt, sind Mechanismen von Gewalt und der Einfluss von Politik und Gesellschaft auf junge Menschen, der Gewalt begünstigen kann. Wie das Publikum in ihrer Ausstellung, ist Vienne eine Beobachterin, die Körper, ihre Regungen und Emotionen haarscharf analysiert und in Kunst transformiert. Dabei stets die Frage im Hinterkopf, warum sich Menschen immer wieder Gewalt antun.

Die Systeme, in denen wir leben, Wahrnehmungs-, Politik- und Ökonomie-Systeme bilden den Nährboden unseres gesellschaftlichen Miteinanders und ermöglichen, dass Gewalt passieren kann. Davon ist Vienne überzeugt. Sie betrachtet den Körper als politische Kampfzone, wie sie im Gespräch mit Anna Gritz, Direktorin am Haus am Waldsee, anlässlich der Berlin Art Week erzählt. Besonders deutlich wird dies in dem Film “Jerk”, der im Rahmen des Kooperationsprojektes während der Art Week im September in den Sophiensaelen gezeigt wurde. Der Film erzählt die Geschichte des amerikanischen Serienmörders Dean Corll, der in den 1970er Jahren mit Hilfe zweier Jugendlicher mehr als zwanzig Jungen tötete.

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Installationsansicht Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Foto: Frank Sperling.

Auch innere Kämpfe prägen die Jugendzeit entscheidend. Diese Lebensphase steht im Zeichen der Identitätssuche, des Ausprobierens und zahlreicher erster Erfahrungen – Erlebnisse, die das spätere Erwachsenenleben nachhaltig beeinflussen können. In dieser Zeit ist man besonders formbar und leicht beeinflussbar, lässt sich oft mitziehen. Erleben junge Menschen in dieser sensiblen Phase Gewalt oder Missbrauch, tragen sie diese Erfahrungen ein Leben lang mit sich.

Wir als Besucher*innen erfahren nichts über die persönlichen Geschichten der Protagonist*innen, ihre Inszenierung lässt zahlreiche Lesarten zu. Sie werden gewissermaßen zu Projektionsflächen der eigenen, individuellen Gefühlswelten und Traumata der Betrachtenden. Trotz der eindringlichen Stille sprechen die Puppen durch ihre Körperhaltungen und leeren Blicke zu uns, wecken dabei Empathie und Mitgefühl. Die Inszenierung als Puppenspiel schafft jedoch eine gewisse Distanz zu den vielen tragischen Geschichten, die wir alle in uns, und die die Puppen als Stellvertreter*innen von echten unbekannten Jugendlichen in sich tragen.

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Gisèle Vienne, Puppen, 2006-2024, Ausstellungsansicht Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde. Georg Kolbe Museum, 2024, Foto: Enric Duch.

Parallel zum Haus am Waldsee zeigt das Georg Kolbe Museum derzeit die Ausstellung “Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde”, die das Werk von Vienne in einen historischen europäischen Kontext stellt und Begegnungen mit Künstlerinnen der Avantgarde wie Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp oder Lotte Pritzel schafft. Anhand verschiedener Kolleginnen aus der modernen Kunstgeschichte und dem Werk von Vienne wird die Bedeutung der Puppe als eigenständige künstlerische Ausdrucksform mit politischem und sozialkritischem Potenzial herausgearbeitet. Darüber hinaus werden die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Puppe und ihre unterschiedlichen Herstellungsweisen anhand verschiedener Epochen aufgezeigt.

Das Georg Kolbe Museum zeigt außerdem erstmals den Kurzfilm “Kerstin Kraus”, der für die Ausstellung 2024 fertiggestellt wurde. Der Film setzt sich mit der tiefen Verbindung zwischen Mensch und Puppe auseinander und hinterfragt die Grenzen von Identität und Selbstinszenierung. Viennes visuelle Erzählweise greift Themen wie Existenz und Vergänglichkeit auf und spiegelt dabei die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche wider. Ihre Arbeiten – in beiden Ausstellungen – hinterfragen Wahrnehmungsmuster, die kulturell und sozial geprägt sind. Die Puppen dienen ihr dafür als wichtiges künstlerisches Werkzeug.

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Gisèle Vienne, Puppen, 2006-2024, Ausstellungsansicht Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde. Georg Kolbe Museum, 2024, Foto: Enric Duch.

Die Ausstellungen im Haus am Waldsee und im Georg Kolbe Museum entziehen sich einer klaren Greifbarkeit – doch wie könnte es auch anders sein, schließlich sind Gefühle selbst schwer fassbar. Besonders die Puppen von Gisèle Vienne entfalten eine unheimliche Präsenz: Wie leere, verkleidete Hüllen füllen sie den Raum, starren ins Leere und überlassen uns unseren eigenen Gedanken. Sie stellen unsere Wahrnehmung auf die Probe und rufen dabei umso intensiver Emotionen hervor. Statt wegzuschauen, blickt das Publikum ganz genau hin. Es ist verstörend – und gerade deshalb so wichtig.

WANN: Die Ausstellung “This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play” im Haus am Waldsee läuft bis zum 12. Januar 2025 und “Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann. Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde” im Georg Kolbe Museum bis zum 9. März 2025.
WO: Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin und Georg Kolbe Museum, Sensburger Allee 25, 14055 Berlin.

Im November zeigen die Sophiensaele Berlin als Teil des Kooperationsprojekts außerdem an drei Abenden das Stück “Crowd” von Gisèle Vienne, das mithilfe von Körpern, Bewegungen und Emotionen von Gegenkulturen erzählt. Die Aufführungen sind bereits ausverkauft.

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