Die Schönheit von Arizona
Joani Tremblay über die Utopie Arcosanti und Vorstellung von Orten

11. Dezember 2020 • Text von

Ihre Gemälde zeigen mystische Landschaften. Gerade ist die kanadische Malerin Joani Tremblay mit einer Serie an Werken in der Gruppenausstellung “Not so far from us” bei Marie-Laure Fleisch in Brüssel vertreten. Mit gallerytalk.net sprach sie über die amerikanische Wüste und die Stadtutopie Arcosanti.

Zwei Gemälde mit verwunschenen Landschaften der Künstlerin Joan Tremblay.
Joani Tremblay, “What Is Real”, 2020 (links) und Joani Tremblay, “Darkness Silence and Nature as a Political Plan2”, 2020 Courtesy of the artist and MLF | MARIE-LAURE FLEISCH.

Durch eine ovale Fensteröffnung blickt man auf eine in Apricot und Türkis gehaltene Wolkenlandschaft, die sich vor eine blaue Bergkette legt. Es sind nicht nur die Farben, sondern auch die ungewöhnliche Form des Fensters, die diesen Ausblick und die Umgebung nicht real erscheinen lassen. Was sich durch runde, mal eckige und ovale Fenster zeigt sind Berge, Meere und Wolken, die an surrealistische Kompositionen von Magritte denken lassen. Landschaften, die faszinieren, die eine Tiefe und etwas Unergründliches in sich tragen. Genau darum geht es der kanadischen Künstlerin Joani Tremblay. Auf Grund des Lockdowns in Deutschland und in Kanada, wo sich die Künstlerin zur Zeit aufhält, trafen wir uns auf Zoom und sprachen über die Weite von Arizona und das architektonische Werk von Paolo Soleri.

gallerytalk.net: Du hast eine Gemäldeserie zu der Experimentalstadt Arcosanti gemalt. Arcosanti ist eine Stadtutopie, die von dem italienischen Architekten Paolo Soleri erbaut wurde. Kannst du mir von deinen Erfahrungen an diesem Ort erzählen?
Joani Tremblay: Ich sollte nach New Mexico und Arizona reisen. Aber dann bekam ich in letzter Minute einen Lehrauftrag, weshalb ich nicht fahren konnte. Ich war deshalb ziemlich frustriert, und so begann ich online zu “reisen” und zu recherchieren. Dabei bin ich auf Arcosanti, diesen skurrilen Ort gestoßen. Arcosanti liegt eine Stunde von Pheonix entfernt und wurde in den 1970er Jahren von Paolo Soleri gebaut. Es ist im Grunde eher die Theorie einer Stadt als eine echte Stadt.

Portrait der Künstlerin Joan Tremblay
Joani Tremblay in ihrem Studio, Photograph by Marie-Anne Letarte.

Wie wurde Arcosanti gegründet? Ist die Stadt bewohnt?
Arcosanti wurde auf Soleris Land gebaut, das er zusammen mit seiner Frau gekauft hatte. Es liegt vollständig in der Wüste, buchstäblich mitten im Nirgendwo. Die Stadt baute er langsam auf. Er hatte Anhänger, die dort hinkamen und praktisch umsonst arbeiteten. Es gibt eine Art Mikro-Gemeinschaft, die noch heute dort lebt, etwa siebzig Menschen. Es ist fast ein Hippie-Livestyle − die Miete ist billig und man muss im Gegenzug dafür arbeiten.

Kannst du etwas zur Entstehungsgeschichte von Arcosanti erzählen?
Im Grunde sind die Formen der Gebäude und Wände interessant. Das Prinzip Soleris war es, ein Loch in den Boden Arizonas zu graben und aus dieser Erde eine Mauer zu bauen. Die Stadt entsteht direkt aus der Erde. Soleri war in gewisser Weise wirklich zukunftsorientiert, aber es war seine eigene Utopie. Denn geht man kritisch an den Sachverhalt heran, wurde diese Stätte durch gratis Arbeit gebaut. Soleris Frau war zum Beispiel der “CEO” und organisierte alles. Als sie starb, wurden alle Bauarbeiten eingestellt. Man sieht, dass sie zur Verwirklichung gebraucht wurde. Soleri hatte die Theorien, aber sie machte es möglich. Trotzdem wird sie kaum anerkannt − Arcosanti, das ist allein er. Er war ein stolzer Italiener, der Zypressenbäume aus Italien brachte, um sie in der Wüste von Arizona zu pflanzen.

Zwei Gemälde der Künstlerin Joan Tremblay, die eine violette Landschaft mit roter Umrahmung zeigen.
Joani Tremblay, “Quaderno 6”, 2019, (left) und Joani Tremblay, “Quaderno 4”, 2019 (right) Courtesy of the artist and MLF | MARIE-LAURE FLEISCH.

Du hast einmal geschrieben, dass du vor allem am Unbewussten und an der Empfindung von Landschaft arbeitest. Was bedeutet das konkret?
Bezüglich Arcosanti war es für mich das Gefühl der Schönheit und der Weite von Arizona. Es ist atemberaubend und fast schon spirituell dort. Das ist auch der Grund, warum so viele KünstlerInnen dort leben. Aber gleichzeitig war die Struktur von Paolo Solari seiner Zeit und der Idee einer Mikrostadt weit voraus. All diese Formen, die Kreise, die Organik. Es war ein sehr fortschrittliches Denken. Er stellte sich eine Stadt vor, in der die Menschen zu Fuß gehen sollten, ganz ohne Autos. Aber gleichzeitig ist es der Mensch, der der Landschaft, in diesem Fall der Wüste, seine Idee aufdrängt. Und so kam mir auch der Gedanke für die Farbgebung der Bilder. Alle Fenster sind dunkelrot umrahmt.

Sind die Ausblicke durch die Fenster denn real?
Nein, es ist nicht so, dass ich plein-air male. Der Ausblick ist zum Beispiel von einer Postkarte, aber die Form des Fensters und der Türen existieren dort so. Es sind Landschaften in Arizona. Aber nicht die Ansicht aus Arcosanti, es ist die Idee davon.

Ein Gemälde und eine runde Skulptur vor einer weißen Wand n der Galerie Marie Laure Fleisch in Brüssel.
MLF Marie-Laure Fleisch, “Not so far from us” Group-Exhibition, Courtesy of the artists and MLF | MARIE-LAURE FLEISCH.

Wie bist du bei deiner Recherche zu Arcosanti vorgegangen?
Zuerst habe ich eine Menge über Arizona recherchiert. Ich habe viel alte Werbung, Reiseprospekte und Postkarten angesehen. Wie wird dieser Staat dargestellt? Was soll man fühlen, wenn man an Arizona denkt? Welches Bild wird durch die Werbung vermittelt und ist das dann real? Auf diesen Postkarten wird zum Beispiel viel Orange, Grün oder Dunkelrot verwendet.

Deiner Meinung nach haben wir also haben eine vorgefertigte Idee eines Ortes?
Davon bin ich überzeugt! Grundsätzlich interessiert mich die menschliche Vorstellung eines Ortes. Bevor ich beispielweise nach Kalifornien gereist bin, habe ich über Kalifornien nachgedacht. Was ich bereits kenne von diesem Staat − von Postkarten, Bildern oder aus Büchern. Mich fasziniert der Gedanke, dass wir kaum noch Orte entdecken können. Im Grunde haben wir alles bereits abgebildet gesehen.

Das ist eigentlich traurig. Dann wird die Vorstellung eines Ortes heutzutage durch Instagram geprägt?
Auf jeden Fall. Theoretisch können wir heutzutage an keinen Ort mehr reisen, um dort etwas Neues zu entdecken. Nehmen wir die Niagarafälle. Man kann dorthin fahren, aber man wird nicht die gleiche Erfahrung machen, wie es einem das Bild auf einer Postkarte vermittelt.

Ein weißer Raum in der Galerie Marie-Laure Fleisch mit Werken der Künstlerin Joan Tremblay.
MLF Marie-Laure Fleisch, “Not so far from us” Group-Exhibition, Courtesy of the artists and MLF | MARIE-LAURE FLEISCH.

In einigen Fällen könnte man auch enttäuscht sein, glaube ich. Man hat den Ort auf einer Postkarte oder in einem Film gesehen. Und dann kommt man dorthin und alles ist viel kleiner, als man es sich vorgestellt hat.
Das sowieso, (lacht)!

Und welche Landschaften werden in der Ausstellung in Brüssel noch gezeigt?
Zwei von Arcosanti und die anderen beiden aus einer Serie, die ich vor dem ersten Lockdown zum Thema “Dunkelheit in der Landschaft” begann. Eine Arbeit ist jedoch viel heller geworden, als ich es erwartet hatte. Manchmal sagt einem das Bild also, was es will (lacht).

WANN: Die Ausstellung “Not So Far From Us” ist noch bis Mittwoch, den 16. Dezember, zu sehen.
WO: Galleria MLF Marie-Laure Fleisch, 13 Rue Saint-Georges| Sint-Jorisstraat, 1050 Ixelles.

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