Ästhetisches Erleben digitaler Realitäten
„poetics of reality (encoded)“ bei max goelitz

7. Mai 2021 • Text von

Wie lassen sich Datenströme nachvollziehbar visualisieren und dabei in einem ästhetischen Rahmen präsentieren? Können Textbilder in Form von Codes als Kunstwerke wahrgenommen werden? Fragen mit denen sich die österreichische Künstlerin Brigitte Kowanz sowie das Kollektiv Troika in ihrem Werk beschäftigen. Erstmals sind die Arbeiten nun zusammen in der von Madeleine Freund kuratierten Ausstellung „poetics of reality (encoded)“ in der Galerie max goelitz zu sehen.

Blick in die Galerie max goelitz mit Werken von Brigitte Kowanz und Troika
poetics of reality (encoded), Installation view, Courtesy Galerie max goelitz, Foto Dirk Tacke.

“Omg!” “Tbh” – Ausdrücke, die man in dieser Form längst auf der Straße hören kann. Abgekürzte Formen von “Oh my God!” und “to be honest”, die bereits Eingang in unseren Chat-Alltag, wenn nicht sogar unseren täglichen Sprachgebrauch gefunden haben. Eine Sprache, die längst geprägt ist durch digitale Kommunikationsmöglichkeiten wie SMS, E-Mail oder Twitter. Die Sätze werden kürzer, Wörter abgekürzt. Bei Twitter stehen schließlich nur 140 Zeichen zur Verfügung. Die vermehrte digitale Kommunikation führt laut Sprachwissenschaftlern auch dazu, dass die Komplexität von Satzstrukturen abnimmt und häufiger umgangssprachliche Strukturen in der schriftlichen Kommunikation verwendet werden – “afaik!” (as far as I know). 

Blick in die Galerie max goelitz mit Werken von Brigitte Kowanz und Troika
poetics of reality (encoded), Installation view, Courtesy Galerie max goelitz, Foto Dirk Tacke.

Als leuchtende Neonlicht-Schriftzüge, in der geschwungenen Handschrift der österreichischen Künstlerin Brigitte Kowanz, sind diese englischen Abkürzungen nun in der Ausstellung “poetics of reality (encoded)” in der Galerie max goelitz zu sehen. Gekonnt stellt die Kuratorin Madeleine Freund die Werke von Kowanz mit großformatigen Arbeiten des Kollektivs Troika in den Dialog und bringt dabei zwei künstlerische Positionen zusammen, die auf unterschiedliche Weise digitale Codes und Algorithmen visualisieren und in ein ästhetisches Erlebnis verwandeln. 

Blick in die Galerie max goelitz.
poetics of reality (encoded), Installation view, Courtesy Galerie max goelitz, Foto Dirk Tacke.

Mehrfach gespiegelt, verschwommen widergegeben, sieht man sich hinter neun hängenden Kreisen aus schwarzen Kabeln und mit Lichtröhren durchzogen, vor der verspiegelten Wand Brigitte Kowanzs im Hauptraum der Galerie. Die Künstlerin, die 2017 neben Erwin Wurm den österreichischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bespielte, setzt das gespiegelte Abbild der Betrachter und Betrachterinnen in Verbindung zu dem weiteren Teil ihrer Installation “Relations”, den hängenden kreisrunden Elementen. Alles ist mit allem verbunden, vernetzt, kann nicht mehr voneinander losgelöst verstanden beziehungsweise gedacht werden. Kowanz hält einem wahrhaftig den Spiegel vor Augen, verweist nicht nur metaphorisch auf die unendlichen Strukturen der Vernetzung, sondern lässt die einzelnen Kreise konkret sprechen, indem sie jedem einen der neun Buchstaben von “Relations” als Morsecode in Form des Neonlichts eingeschrieben hat. Licht fungiert bei Kowanz als visuelles Sprachrohr.

Leuchtröhrenwerk von Brigitte Kowanz
Brigitte Kowanz, UN Climate Change Conference Paris 30.11.2015 12.12.2015, 2019, Courtesy of max goelitz Copyright the artist Photo: Peter Hoiss.

Dass es der österreichischen Künstlerin nicht nur um die Struktur der Daten und die Weitergabe von diesen geht, sondern genauso um deren eingeschriebene wie weiterverarbeitende Information, zeigt sich in Arbeiten wie “UN Climate Change Conference Paris 30.11.2015 12.12.2015” von 2019. Auch hier nutzt die Künstlerin Licht als visuelles Mittel, um das Übereinkommen der Klimakonferenz von Paris 2015 im wahrsten Sinne sichtbar zu machen. Wie in den Kreisen von “Relations” hat Kowanz die Morsezeichen der zeitlichen Daten in die schwungvoll gezeichneten Linien eingefügt.

Auch in den Werken von Troika, steht hinter der reinen Visualisierung von Daten vielmehr die inhaltliche Auseinandersetzung mit den übertragenen Informationen im Vordergrund. Gegründet wurde Troika 2003 durch die zwei Künstlerinnen Eva Rucki und Conny Freyer gemeinsam mit Sebastien Noel. Ansässig in London beschäftigt sich das Kollektiv damit, welche Mittel der Datenübertragung existieren und inwieweit diese in die physische Realität übertragen werden können. Ähnlich wie auch Kowanz gesamtgesellschaftliche Sujets wie Erderwärmung und Klimapolitik aufgreift, behandelt Troika in der Serie “Irma watched over by machines” (201–2020) ein ähnliches Themenspektrum – “entcoded” jedoch auf ganz andere Weise.

Werke von Troika mit Palmen in der Galerie max goelitz.
poetics of reality (encoded), Installation view, Courtesy Galerie max goelitz, Foto Dirk Tacke.

Nicht mittels Licht, sondern akkurat, fast akribisch bildet das Trio in “Irma watched over by machines” Aufzeichnungen von Überwachungskameras ab, die die verheerenden Folgen des Hurrikans Irma im Spätsommer 2017 in der Karibik und an der Westküste Floridas aufzeichneten. Die Aufnahmen übertrug Troika im Originalspektrum RGB der digitalen Bildsensoren auf die Leinwand. Dabei bezogen sie sich auf einen Algorithmus, der die genauen Farbinformationen der vergrößerten Pixel aus jeweils 16 Rot-, Grün- sowie Blautönen imitiert und deren jeweilige Helligkeitswerte bestimmt. Was von weitem als Bild mit klaren Konturen erkennbar ist, löst sich bei Herantreten immer weiter auf, verschwimmt. Was als Bild akkurat von den Kameras wahrgenommen werden kann, ist in seiner genauen Auflösung dem menschlichen Auge nicht möglich einzufangen. 

Zwei Werke von Troika
Troika, Hierophany, 2019, Courtesy of Galería OMR, Mexico City and max goelitz Copyright the artist Photo: Studio Troika // Troika Irma Watched Over by Machines, 2020, Courtesy of Galería OMR, Mexico City and max goelitz Copyright the artist Photo: Studio Troika.

Ähnlich verhält es sich in den weiteren ausgestellten Werken Troikas, in denen Algorithmen in ihrer Existenz als eine Reihe an Anweisungen visualisiert werden. So etwa in den aus schwarz-weißen Würfeln bestehenden Arbeiten wie “Hierophany” (2019) oder “Reality is not always Probable” (2021), in denen lesbare Strukturen bei näherem Herantreten nicht mehr lesbar oder nachvollziehbar werden.

“poetics of reality (encoded)” bietet ein visuelles Erlebnis und ästhetisches Wahrnehmen von Daten und Informationen. Digitale Systeme und Codes, die unseren Alltag bestimmen und uns in ihrer künstlichen Intelligenz längst fest im Griff haben. So ist ein Dasein ohne Algorithmen nicht mehr vorstellbar. Deren Komplexität und Zusammenhänge lassen sich jedoch kaum noch nachvollziehen. Sehr gelungen führt einem diese “entcodierte” Poesie bei max goelitz diese – unsere – Realität vor Augen.

WANN: Die Ausstellung “poetics of reality (encoded)” läuft noch bis Mittwoch, den 2. Juni.
WO: Galerie max goelitz, Maximilianstraße 35, 80539 München.

Die Kuratorin Madeleine Freund ist Redakteurin von gallerytalk.net.

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