Das Einfrieren von Erinnerung
Lulù Nuti in der Galerie Chloé Salgado

19. April 2021 • Text von

Verlust, Vergänglichkeit, Verwandlung – in ihrer zweiten Einzelausstellung “Terrain Amère” in der Pariser Galerie Chloé Salgado hinterfragt die französische Künstlerin Lulù Nuti ernste Sujets, die sie in ihren Installationen und Zeichnungen spielerisch leicht zum Ausdruck bringt. Wir sprachen mit Nuti über die Feindseligkeit der Natur, Erinnerungen, die Vergänglichkeit des Menschen und das Innere von Picasso-Skulpturen.

Stäbe aus Kupferblättern
Inferiata (detail 1), Lulù Nuti, 2021 – Photo Eleonora Cerri Pecorella © Lulù Nuti & GALERIE CHLOE SALGADO.

gallerytalk.net: Bist du noch in Paris oder schon wieder in Rom? Ich bin ja ein bischen neidisch, dass du von dir behaupten kannst, zwischen Rom und Paris zu leben. Wer würde sich das nicht wünschen? Das ist ja so ein Glück.
Lulù Nuti: Absolut! Ich bin wirklich froh, dass ich das machen kann. Vor Corona war ich viel unterwegs, aber jetzt bin ich die meiste Zeit in Rom geblieben. Dort habe ich jetzt ein Studio, das 130 Quadratmeter groß ist. Es ist relativ billig, fast wie in Berlin vor zehn Jahren. Es gibt viele KünstlerInnen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Außerdem eröffnen gerade viele Räume, wo zeitgenössische Kunst ausgestellt wird. Rom war davor nicht unbedingt ein internationales Zentrum für zeitgenössische Kunst. Das ändert sich gerade!

Links ein Bild eines Kupferstabes aus Blättern, rechst ein Blick in ein Fenster in dem ein Gitter aus Kupferstäben installiert ist.
Inferiata (detail 2), Lulù Nuti, 2021 – Photo Eleonora Cerri Pecorella © Lulù Nuti & GALERIE CHLOE SALGADO; Inferiata, Lulù Nuti, 2021 – Photo Grégory Copitet © Lulù Nuti & GALERIE CHLOE SALGADO.

In der Galerie Chloé Salgado sind deine neuen Werke gerade in einer Einzelausstellung mit dem Titel “Terrain Amère” ausgestellt. (Die Eröffnung wurde pandemiebedingt verschoben; Anm. d. Red.) Es ist auffallend, dass du hauptsächlich Werke aus natürlichen Materialien wie Stein oder Kupfer zeigst. Woher kommt Dein Interesse an diesen Materialien?
Ich betrachte meine Installationen als Ökosysteme, die sich im Laufe der Zeit verändern. Ein ähnlicher Aspekt, den man in der Natur bei der Fotosynthese von Pflanzen findet. Genauso sehe ich ein Kunstwerk als etwas Lebendiges an. Alle meine Arbeiten sind von diesem Gedanken oder dieser Fiktion inspiriert. Dieses Changieren zwischen Realität und Fiktion erscheint jetzt auch im Zuge des Virus’. Wobei die Realität immer fiktionaler wird. 

Ich liebe die Gitterstäbe aus Blättern, die mit Kupfer bedeckt sind und im Fenster der Galerie installiert sind. Was hat es damit auf sich?
“Inferiata” (dt. Gitter, Anm. d. Red.) ist eine Installation aus in Kupfer gegossenen Blättern. Die Natur wird hier zu einem einschließenden Architekturelement, wie ein Käfig. Metaphorisch greift die Installation unsere Wahrnehmung der Natur auf, und wie diese sich im letzten Jahr verändert hat. 

Lulù Nuti im Studio
Portrait Lulù Nuti – Photo Eleonora Cerri Pecorella © Lulù Nuti.

Wie meinst du das?
Unser Blick auf die Welt und die Natur hat die Perspektive gewechselt. Jahrhundertelang haben MalerInnen Landschaften gemalt und gerahmt und damit den Sieg über die Natur gefeiert. Heutzutage sind wir es, die hinter Gitterstäben gehalten werden. Nicht mehr der Versuch die Natur einzurahmen steht im Vordergrund, sondern die Natur, die uns in ein Gefängnis drängt. Wir starren auf einen begrenzten Horizont und beklagen unsere Zukunft. Die Gitterstäbe verbildlichen diesen Gedanken mit ihren unbeweglichen Blättern, die wie in einem “ewigen” Herbst erstarrt sind.

Indem man die Natur, in diesem Fall die Blätter, in Kupfer gießt, geht es aber auch gleichzeitig darum, einen bestimmten Moment festzuhalten, oder?
Die Blätter sind aus Rom, die im Herbst entlang des Tibers gefallen sind. Die ganze Ausstellung bei Chloé steht im Zusammenhang mit einer sehr persönlichen Erfahrung, die ich dieses Jahr gemacht habe. Ich habe meinen Bruder verloren. Er starb im Herbst. Ich habe angefangen, die Blätter zu sammeln, und somit probiert diesen Moment einzufangen. Um die Blätter zu erhalten, habe ich sie in Kupfer gegossen. Aber das Kupfer wird altern und grün beziehungsweise schwarz werden. Es sieht dann aus wie Metall. Das greift wieder den Aspekt der Vergänglichkeit auf. Als ich die Arbeit gemacht habe, wurde mir unsere eigene Vergänglichkeit sehr bewusst. Dass das Sterben eigentlich die natürlichste Sache der Welt ist. Die Natur bedeutet entweder Freiheit oder wir werden daran erinnert, dass wir Menschen nur aus Erde bestehen. Nichts geht verloren, alles verwandelt sich. 

Farbige Kreidezeichnung von Lullt Nuti.
Sans titre (It’s not a memory) (detail 3), Lulù Nuti, 2021 – Photo Eleonora Cerri Pecorella © Lulù Nuti & GALERIE CHLOE SALGADO

Ich finde die Installation der Blätter sehr berührend. Die Idee, den Moment des Todes einer Person festzuhalten, die einem so nahe ist. Ich denke, dieses Jahr der Pandemie hat uns die Tatsache sehr bewusst gemacht, dass wir nicht unsterblich sind.
Es gibt ein Buch, das ich liebe, von Jean-Loup Rivière, einem jungen französischen Dramaturgen, “Comment est la nuit?”. An einer Stelle schreibt er, dass “jung sein” bedeutet, wie auf einem Boot mit Blick nach vorne zu fahren. Von dem Moment an aber, an dem man sich beginnt umzudrehen und den Horizont hinter sich sieht, ist der Moment gekommen, in dem man rückblickt und es zu Ende geht. 

In welchem Zusammenhang stehen die Zeichnungen dazu?
Die gesamte Ausstellung ist mit der Idee von Erinnerung verbunden. Auch die Zeichnungen. Bei unserer letzten gemeinsamen Reise mit meinem Bruder sind wir durch die Berge gefahren. Ich begann, die Natur um uns herum zu zeichnen. Und während ich zeichnete, dachte ich, wie wird er sich wohl an diesen Moment, an die Natur erinnern. Außerdem sind Berge wie das Meer − die Extreme der Natur. Die Orte, an denen wir am meisten gefährdet sind. 

Farbige eingerahmte Zeichnung von Lulù Nuti.
Sans titre (But a desire), Lulù Nuti, 2021 – Photo Grégory Copitet © Lulù Nuti & GALERIE CHLOE SALGADO.

Viele deiner Werke kreisen um unser Verhältnis zu unserer Umwelt. Was denkst du, welche Veränderungen sollten in der Kunstwelt vorgenommen werden, um besser mit unserer Umwelt umzugehen?
Die Lösung weiß ich auch nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass es bei uns jungen KünstlerInnen auf jeden Fall, ein verändertes Bewusstsein im Umgang mit natürlichen Materialien und endlichen Ressourcen gibt. Wenn ich mich zum Beispiel entscheide, mit einem bestimmten Material zu arbeiten, informiere ich mich vorher zuerst, ob es verzichtbar ist. Das bedeutet nicht, dass man nicht etwas verwenden könnte, das künstlich ist, weil ich ja auch mit Beton arbeite. Ich möchte in meinem Werk nicht urteilen. In der Ausstellung steht beispielweise eine Skulptur, die nur aus Resten besteht: Das sind Reste anderer Skulpturen, die ich aufbewahrt habe. Da habe ich dann allerhand Dinge reingepackt, um sie auszufüllen. So wie viele BildhauerInnen das machen. Ich habe letztens eine Röntgenaufnahme einer Picasso-Skulptur gesehen, die er mit Gabeln und Spielen seiner Kinder ausgestopft hatte (lacht).

Die Aussage finde ich interessant, dass du sagst, “du wollest mit deinem Werk nicht urteilen”. Weil ich mehrmals bei dem Gedanken an Ökosysteme an die Land Art, wie sie in den 1960er Jahren aufkam, gedacht habe. An die Kunst von Walter de Maria oder Robert Smithson. Diese Künstler versuchten ja sehr darüber zu urteilen, wie die Menschheit das Ökosystem zerstört.
Das ist richtig, aber das ist nicht meine Intention. Wenn ich urteile, grenze ich aus. Ich will vielmehr aufmerksam machen. Wege finden, die Menschen zum Umdenken zu bewegen.

WANN: Die Ausstellung “Terrain Amère” wird nach dem Ende des erneuten Lockdowns in Paris eröffnen.
WO: Galerie Chloé Sagaldo, 61 Rue de Saintonge, 75003 Paris.

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