Es könnte auch anders sein
Vincent Scheers bei Sharp Projects

29. Mai 2023 • Text von

Was passiert, wenn der Mensch der Natur zum Untertan wird? Der belgische Künstler Vincent Scheers hinterfragt bei Sharp Projects in Kopenhagen die Handlungsfähigkeit nicht-menschlicher Lebensformen in zivilisatorischen Kontexten. Damit führt er auf humorvolle Art und Weise die Fragilität allgemeingültiger Vorstellungen von Macht und Kontrolle vor Augen. (Text: Emma Dotzer)

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Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen. // Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen.

Vor dem Menschen war das Tier. Seit Beginn aller Zeit existieren wir nur in Beziehung zur Natur und den Tieren um uns herum. Wir nutzen und bewirtschaften den natürlichen Raum, beherrschen und kontrollieren ihn, machen ihn uns zum Untertan. Aber wer hat hier wen in der Hand? Welche modernen Machtdynamiken nehmen wir für selbstverständlich und was passiert in ihrer Abwesenheit?

Der belgische Künstler Vincent Scheers stellt in seinen Arbeiten allgemeine Normen der Zivilisation auf den Kopf. Seine Zeichnungen, Gemälde und Rauminstallationen kreieren Irritation und Distanz zu alltäglichen Wahrnehmungszusammenhängen menschlicher Dominanz und untergraben damit die allgemeingültige Logik, die der Beziehung zwischen der natürlichen Sphäre und dem Zivilisatorischen zugeschrieben wird.

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Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen. // Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen.

Vincent Scheers’ Einzelausstellung „The History of the Criminal“fordert diese Logik heraus, indem sie das Eigeninteresse von Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen und Insekten in einen zentralen Konflikt mit den bürokratischen Systemen der modernen Welt stellt. In Scheers’ Arbeiten kontrollieren Protagonisten wie Löwenzahn, Unkraut, Fische und Laub auf verschiedenste Weisen ihr menschlich geschaffenes Gegenüber. Mit einem Augenzwinkern interpretiert Scheers die Stellung nicht-menschlicher Lebensformen in anthropogenen Systemen neu – und stellt zugleich die ethische Überlegenheit unserer Spezies im Bewusstsein der Betrachtenden auf die Probe.

Es sind Geschichten und Situationen, in denen ein Fisch plötzlich einen Menschen an der Angel hat, eine Brennnessel eine Feuergranate zum Strahlen bringt, vom Baum gefallene Blätter eine Metallstange zerschneiden oder eine Biene und eine Wespe mit einem Metallmesser kokettieren. Die Objekte in Scheers’ Kunst sind kategorisch klar verständlich, aber zeigen in ihrer Zusammensetzung neue Sinnzusammenhänge und Alternativszenarien auf.

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Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen. // Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen.

„The History of the Criminal“ baut auf Scheers’ Exploration der wenig bekannten Geschichte der Tierprozesse vergangener Jahrhunderte auf. Seit frühester Zeit gibt es Bestimmungen zum Schutz von Tieren, allerdings galten diese bis ins Rechtssystem des 18. Jahrhunderts primär oder ausschließlich menschlichen Interessen, etwa denen der Tierbesitzer. Inspiriert von Michael Foucaults „Überwachen und Strafen“ von 1975 untersucht Scheers die Entwicklung moderner Straf- und Kontrollsysteme und platziert die dabei identifizierten Machtregime mit einem kritischen Blick auf das Subjekt in neuen Kontexten.

So macht Scheers die Betrachtenden seiner Arbeit „Incubator Studies“ zu Überwacher*innen  eines Aquarellporträts eines Löwenzahns, das in einem temperaturgesteuerten Ei-Inkubator gedeiht und verschimmelt – und kreiert damit Parallelen zum bei Foucault zentralen „Panopticum“. Das vom britischen Philosophen Jeremy Bentham eingeführte Konzept des „perfekten Gefängnisses“ nutzt Foucault als Exempel für die Machtstrukturen der modernen Gesellschaft. Bei Scheers dringen schimmelnde Mikroorganismen in ihrer feuchten Umgebung in die Leinwand ein – und die Zuschauenden werden Beistehende eines Prozesses, bei dem die Malerei zum Opfer der für den Menschen schädlichen Keime und Bakterien wird.

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Vincent Scheers “The History of the Criminal”, Sharp Projects, 2023. Foto: Bjarke Johansen.

Eine ähnliche Situation schaffte Scheers’ Eröffnungsperformance, in der sich der Künstler selbst zum Objekt gewalttätiger Unterhaltung machte. Auf einem Stuhl neben einem kleinen Aquarium sitzend hing an Scheers’ Ohrring ein Angelköder, welcher mit einem elektronischen Fisch im Aquarium verbunden war. Der Fisch zog im Wasser seine Kreise und durch sein ungesteuertes, unbeholfenes Zappeln quälte er Scheers durch das Ziepen an seinem Ohr. Diese menschliche Unterlegenheit gegenüber einem Elektrofisch und den damit verbundenen Schmerz zu beobachten, brachte Zuschauende in eine halb absurde, halb witzige Situation, in der sie zu tatenlosen Überwacher*innen eines außergewöhnlichen Gewaltverhältnisses wurden.

The „History of The Criminal“ lässt uns unsere Beziehung zur Natur und Macht neu reflektieren. Im Zeitalter einer vom Menschen bewirkten Klimakrise halten Scheers’ Assemblagen den Besuchenden auf spielerische Art und Weise vor, dass es die Natur ist, die die Menschheit der Hand hat, und nicht andersherum – und dass die Ignoranz dieser Tatsache bedrohlich ist. Durch die Abwesenheit jeglicher Referenzen zu den modernen Technologien des 21. Jahrhunderts veranlasst Scheers sein Publikum dazu, das eigene, ursprüngliche und fast kindliche Verhältnis zu Tieren, Pflanzen und Erde neu zu denken. So demonstriert er auf sanfte und doch humorvolle Art und Weise die Kontingenz moderner Machtsysteme.

WANN: Die Ausstellung “The History of the Criminal” von Vincent Scheers ist noch bis Freitag, den 2. Juni, zu sehen.
WO: Sharp Projects, Blegdamsvej 38, 2200 Kopenhagen.