Erkenntnis statt "All You Can Eat"-Buffet
Chinesische Fotografie in der Alexander Tutsek-Stiftung ermöglicht neue Gedanken

17. Juli 2020 • Text von

Was weiß ich eigentlich wirklich über China? Inwieweit bin ich durch ein westliches Bild geprägt? Und woher kommen all diese Klischees in meinem Kopf? Die Ausstellung “About us. Junge Fotografie aus China” in der Alexander Tutsek-Stiftung hat mich nachdenklich gestimmt. 

Chinesische Frau

Liang Xiu, Fringe of Society – Keep Watching, 2016, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung © Image courtesy of the artist and Three Shadows +3 Gallery

Denke ich an China, dann denke ich an einen Kontrollstaat, ein autoritäres Regime, an Wuhan, als Geburtstätte einer globalen Pandemie, an Ein-Kind-Politik, Doktrin, an eine Wirtschaft, die europäische Qualitätsprodukte kopiert. Ich denke an Winkekatzen, an dystopische Überwachungssysteme der Bürger*innen, die chinesische Mauer, an Streitigkeiten mit den USA und an ein Land, das vermeintlich den ganzen Kontinent Afrika aufkauft.

Mann mit Pumps

Liang Xiu, Fringe of Society, Male Roles, Female Roles, 2016, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung © Image courtesy of the artist and Three Shadows +3 Gallery

Ich war noch nie in China. Ich habe mal an der Uni ein Semester lang versucht, chinesisch zu lernen und bin, nachdem ich das Gefühl hatte, noch nie so viel für eine Prüfung gelernt zu haben, durchgefallen. Da mich damals billiges Vergnügen mehr interessierte, als sprachliche Vielfalt, fand ich, zum Glück schnell Ablenkung von meiner Leistungsmisere. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass das Wort „ma“ je nach Akzent und Aussprache, vier unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Worte wie Handtasche, Pferd und Mutter lagen, soweit meine Erinnerung, sehr nah beieinander. Gefährlich! Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, wie gefüllt ich mit Klischees und negativen Ideen zum Land der aufgehenden Sonne bin. Dass mein Horizont sich nicht viel weiter als bis zum chinesischen “All You Can Eat”-Buffet erstreckt, wo ich beim Auflöffeln von Ente süß-sauer leise darüber kichere, dass bei dem Schild „Frühlingsollen“ das „r“ fehlt. Und das, obwohl ich regelmäßig Zeitung lese, Arte-Dokus schaue und bislang dachte, ich würde mit global ausgerichtetem und offen-kritischen Blick durch die Welt spazieren. Ich habe offensichtlich keine Ahnung.

Paar in Ruine mit Blumen

RongRong & inri, Liulitun, Beijing 2003 No. 8, 2003, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung © Image courtesy of the artist and Three Shadows +3 Gallery

Da Reisen nach China gerade schwierig sind und ich mit diesem eingeschränkt-peinlichen Weltbild nicht länger leben wollte, machte ich mich auf den Weg von Berlin nach München, um die Ausstellung “About Us. Junge Fotografie aus China” in der Alexander Tutsek-Stiftung zu besuchen. Hier widmen sich rund 70 Fotografien aus den letzten 20 Jahren von 14 Künstler*innen der Frage nach den Lebenserfahrungen der Einzelnen im Zuge einer sich wandelnden chinesischen Gesellschaft. Das Selbstverständnis der jüngeren Generation wird beleuchtet und subjektive Erfahrungen in den Mittelpunkt gestellt. Thematisch dreht es sich hierbei von Dokumentation des explosionsartigen sozialen Wandels über die kritische Wahrnehmung neuer Lebensbedingungen sowohl in den Metropolen, als auch auf dem Land, bis zur Aufmerksamkeit für das verschwindende kulturelle Erbe.

Wasserfall in schwarz weiß

GraceNo.18, Jiang-Pengyi, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung © Image courtesy of the artist and Three Shadows +3 Gallery

Besonders spannend an der Ausstellung ist, dass die Arbeiten den gleichen Zeitgeist widerspiegeln, der in gleicher Form vielerorts bei junger Kunst gefunden werden kann. Suche nach Identität, der Vergangenheit, Positionierung in der Gesellschaft. Die Arbeiten folgen unterschiedlicher Ästhetik und wandern von experimentellen Werken, in denen die Ablösung einzelner Schichten der Fotografie zu skulpturartigen Gebilden umgebaut wurden, hin zu Arbeiten in schwarz-weiß, deren Motive Geschlechterrollen hinterfragen, Naturaufnahmen zeigen oder den Abriss von Hausprojekten reflektieren, in denen die Künstler*innen sich viele Jahre trafen. Es wird mit der Erfahrung von Einsamkeit beim Tanzen im Club gespielt und mit Passbildern, die gemeinsam eine Art Stammbaum vergangener Zeiten präsentieren. 

Tanzende Menschen in einem Club

Chen Wei, In the Waves #2, 2013, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung © Image courtesy of the artist and Blindspot Gallery

Während ich durch die Ausstellung lief, konnte ich mich, meine Freunde und mein gesellschaftliches Umfeld in den Arbeiten wiederfinden. Ich habe erwartet, dass meine Klischees erfüllt, ich mehr “chinesisches” in den Werken finden würde. Gesehen habe ich stattdessen, dass es den Menschen dort, die mir so entfernt sind, ganz ähnlich geht, wie mir hier in Berlin. Ich habe gesehen, dass die Gedanken, Probleme, Ängste und das Glück vergleichbar sind. Dass das, was ich zu China weiß, im Zweifelsfall einen dünnen Rahmen bildet und kulturelle Unterschiede viel weniger Einfluss auf das Leben von Menschen haben, als Schichten, Szenen und Bildung. Die Ausstellung hilft zu verstehen, dass, würde man sich weitere Bewertungsrahmen als Ländergrenzen und kulturelle Unterschiede zur Hand nehmen, vielleicht Klischees und Rassismen, wie wir sie leider zu dem einen oder anderen Thema wohl alle in unseren Köpfen tragen, besser ausgeräumt werden könnten. 

WANN: Die Ausstellung kann noch bis zum 29. Januar besichtigt werden. 
WO: Alexander Tutsek-Stiftung, Karl-Theodor-Straße 27, 80803 München.

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