Eine Herausforderung für die Institution
Der Preis der Nationalgalerie 2019

19. August 2019 • Text von

Der Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin eröffnet die Ausstellung der vier nominierten Künstler und Künstlerinnen für den Preis der Nationalgalerie 2019 – künstlerischer Nachwuchs auf hohem Niveau.

Gruppenbild Shortlist-Kandidat*innen Preis der Nationalgalerie 2019
Pauline Curnier Jardin, Simon Fujiwara, Katja Novitskova, Flaka Haliti (v.l.n.r.), Foto: David von Becker.

Am 12. September 2019 ist es soweit. Dann wird Preis der Nationalgalerie schon zum 10. Mal vergeben. Er kürt einen der prägenden Protagonisten der Gegenwartskunst und zeichnet ihn mit einer Einzelausstellung in einem der Häuser der Nationalgalerie und einer begleitenden Publikation aus. Es mag der Jury, bestehend aus einer internationalen Auswahl an sechs Museumsdirektoren und –direktorinnen nicht leicht fallen in diesem Jahr. Denn die einzelnen Positionen der Newcomer sind stark. Es ist eine gelungene Ausstellung, welche die Kuratorin Dr. Dorothée Brill gemeinsam mit den nominierten Künstlern, der Französin Pauline Curnier Jardin, dem Briten Simon Fujiwara, der aus dem Kosovo stammende Flaka Haliti und der Estin Katja Novitskova auf die Beine gestellt hat.

Obwohl in ihrer Umsetzung und künstlerischen Ausdruck deutlich verschieden ist allen Nominierten die Auseinandersetzung in ihren Werken mit aktuellen Fragen zu politischen und ethnischen Konflikten, zeitgenössischen kulturellen Massenphänomenen sowie dem andauernden technologischen Fortschritt gemein. Erstmals seit Entstehung des Preises wird die Ausstellung von einem Booklet begleitet, das den Besucher ausführlich über die teilweise nicht gleich von Beginn an einleuchtenden Arbeiten der Künstler informiert. Die nominierten Künstlerinnen des Preises 2017 hatten zu Recht beanstandet, dass die allgemeine Wahrnehmung des Inhalts ihrer Arbeiten unter der Betonung ihres Geschlecht sowie ihrer Herkunft gelitten hatte. Offenbar hat man aus der Kritik gelernt – die Biografie der Künstler soll nun wieder in den Hintergrund gerückt werden, der Fokus wieder auf der Kunst, ja ihrem Inhalt liegen. So räumte auch Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie Berlin, bei der Pressekonferenz ein, „dass die künstlerischen Beiträge auch von den Institutionen – das gilt sicherlich weltweit – immer mehr auch eine ethisch-moralische Verantwortung verlangen“.

Neben der moralischen Verantwortung, die alle vier Künstler in ihren Arbeiten eint, ist ihnen auch die Auseinandersetzung mit dem Raum gemein. So ist bei allen zu erkennen, dass der Museumsraum bis auf den letzten Zentimeter zu künstlerischem Material geworden ist. „Durch die Arbeit prozessiert worden ist“, wie die Kuratorin Dr. Dorothée Brill erklärt. Und tatsächlich wird man von einer raumgreifenden Installation direkt in die nächste geleitet. Keine Zeit zum Durchatmen, Nachdenken, kein Raum dazwischen.

Flaka Haliti, Installationsansicht im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Courtesy the artist and Deborah Schamoni, Foto: Mathias Völzke.

Der Rundgang, wie im Booklet angegeben, führt den Besucher zuerst in die cleane, in Silber- und Grautönen gehaltene Installation Flaka Halitis. Eingebettet in Metallwände begegnen dem Besucher in den beiden Räumen zwei humanoide Roboter „Its urgency got lost in reverse (while being in constant delay)“(2018/2019). Diese hat Haliti aus Materialien zusammengesetzt, die aus inzwischen aufgegebenen Feldlagern der Kosovo Force (KFOR) entstammen. Ehemals militärisches Material entfremdet die Künstlerin und stellt es als Baustein heilsbringender Roboter mit Flügeln in einen entgegengesetzten, friedlichen Kontext. Haliti spricht einen durch eine cleane Ästhetik an, ist aber ohne erläuternde Hilfestellung des Booklets schwer zu fassen.

Pauline Curnier Jardin, Installationsansicht im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Courtesy the artist and Ellen de Brujine Projects, Foto: Mathias Völzke.

Sehr deutlich dafür erschließt sich einem der direkt angrenzende dunkle Dschungel der Französin Pauline Curnier Jardin. Deren Film „Qu’un Sang Impur“ (2019) wird in diesem Wald aus Vinylobjekten, die Damenkörpern nachempfunden sind, gezeigt und ist eine Anlehnung an Jean Genets homoerotische Liebesgeschichte „Un Chant d’Amour“ (1950): Statt Männerkörpern präsentiert Jardin eingesperrte Frauen nach der Menopause, die sich in ihren Gefängniszellen freizügig und voller Lust der Masturbation hingeben. Auch der zweite Film „Explosion Ma Baby“ (2016), in dem Väter an einem nicht genannten Ort ihre nackten Babys im Zuge eines Heiligenrituals in die Luft strecken, begeistert durch seine mit rhythmischer Trommelmusik unterlegte Super 8-Ästhetik.

Katja Novitskova, Installationsansicht im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Courtesy the artist, Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin and Sammlung Marta. Foto: Mathias Völzke.

Vom mit menschlicher Begierde überladenden Vinylwald gelangt man in die weißen, laborgleichen, mit teils zweckentfremdeten Maschinen ausgestatteten Räume der Estin Katja Novitskova. Eine ähnlich absurde Umgebung wie der Gummipuppendschungel, nur geht es hier thematisch um das Erforschen anderer Lebensformen: Maschinen wie die elektrischen Babyschaukeln „Pattern of Activation (mamaRoo nursery, dawn chorus)“ (2017) werden mit organischen Materialien entfremdet, Technologie wird zur organischen Natur. Novitskovas Auseinandersetzung mit Kunst und Wissenschaft lassen einen jedoch mit Fragen zurück: Sind wir längst zu maschinenähnlichen Wesen geworden oder ist der Roboter bereits organische Natur?

Simon Fujiwara, Installationsansicht im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Courtesy Collection Lafayette Anticipations – Fonds de dotation Famille Moulin, Paris, Esther Schipper, Berlin and Dvir Gallery, Brussels and Tel Aviv, Foto: Mathias Völzke.

Es folgen – last aber weitem not least – die konzeptuellen Beiträge des Briten Simon Fujiwara. Durch ein „Archiv eines einzelnen Buches“, gesammelte Ausgaben des erotischen Romans „Fifty Shades of Grey“, mit welchem Fujiwara auf eine populäre Ikone der Gegenwart hinweist, gelangt man zu einer hyperrealen Wachsfigur Anne Franks, die einem aus einem weiß gehaltenen Museumsraum entgegenlacht. Es ist die Nachbildung der Figur Franks bei Madame Tussauds, deren Ausrichtung und Blick wohl in einem optimalen Verhältnis zu der Kameralinse eines männlichen Besuchers steht. Der Anblick ist verstörend – weiß man doch um das Schicksal des jüdischen Schulmädchens, das heute als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der NS-Zeit gilt. Mit „Likeness“ (2018) gelingt es Fujiwara, nicht nur den voyeuristischen Blick des Betrachters zu hinterfragen, sondern auch, was die Gesellschaft aus der Figur Anne Frank als Wachsfigur bei Madame Tussauds gemacht hat.

Es sind vier Positionen, die zum Nachdenken anregen. In sehr unterschiedlichem Ansatz, aber durchaus überzeugend. Ob in Zeiten von #MeToo und dem Bestreben nach geschlechtlicher Gleichberechtigung tatsächlich ein männlicher Kandidat zum Preisträger werden könnte, bleibt fraglich und ist sicherlich eine Herausforderung für die Institution.

WANN: Die Ausstellung zum Preis der Nationalgalerie 2019 läuft bis 16. Februar 2020. 
WO: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin.

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