Derb, provokant, ungewöhnlich
"Freedom & Independence" in der Galerie Ebensperger

14. Dezember 2020 • Text von

Ironischer könnte ein Ausstellungstitel aktuell wohl nicht sein: “Freedom & Independence” der Galerie Ebensperger fasst namentlich die großen Sehnsüchte in diesem Jahr zusammen und vereint derbe und provokante künstlerische Positionen an zwei Standorten – in einer schicken Altbauwohnung in Charlottenburg und einem dunklen Keller auf dem Silent Green Gelände im Wedding. Eines ist sicher: Hier ist wirklich nichts gewöhnlich.

Eingangssituation in einer Berliner Altbauwohnung. Zu sehen ist der Künstler Björn Melhus als Ayn Rand. Im Hintergrund ein Bild von Otto Muehl mit einer Nacktdarstellung einer Frau.
Installationsfoto FREEDOM & INDEPENDENCE 2020.11 ©Ludger Paffrath Courtesy Ebensperger.

Ein Ausstellungsbesuch der besonderen Art: die Galerie Ebensperger bietet derzeit 24/7 Besichtigungen der aktuellen Ausstellung “Freedom & Independence” –  welch ironischer Titel – an zwei Standorten in Berlin an. Gezeigt werden extreme und eher unkonventionelle künstlerische Positionen. Unter anderem mit dabei: Tim Etchells, Lea Draeger, Bjørn Melhus, Otto Muehl, John Bock und Bruno Schleinstein.

Galerien, die offiziell zum Einzelhandel gehören, dürfen im Gegensatz zu Museen derzeit noch geöffnet bleiben. Die Galerie Ebensperger hat sich da aber etwas Anderes überlegt und bietet statt geregelter Öffnungszeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit private Führungen durch die Ausstellungsräume an, Terminvereinbarungen sind schnell und unkompliziert per E-Mail möglich. Hat man sich zu einem Besichtigungstermin aufgemacht, wird hier so einiges unmittelbar klar: Normen werden gebrochen und die Kunst eckt an! Reine Ästhetik ist viel zu einfältig und hat bei Ebensperger definitiv nichts zu suchen.

Begrüßt wird man in der schicken und geräumigen Charlottenburger Altbauwohnung in der Meinekestraße 5 – einem der beiden Ausstellungsstandorte – von Bjørn Melhus als Ayn Rand (1905 – 1982), der russisch-US-amerikanischen Autorin zahlreicher Bücher rund um Themen wie Ökonomie, Kapitalismus, Ethik und Politik. Auch auf dem Silent Green Gelände im Wedding – dem zweiten und eigentlichen Hauptstandort der Galerie und Ausstellung – warten der Künstler und seine Videoarbeit “Freedom & Independence”, die titelgebend ist, auf uns Besucher*innen. Ein gesellschaftskritischer Kurzfilm, der teilweise auch auf dem Silent Green Gelände gedreht wurde. Hier schlüpft Melhus in verschiedene Rollen der Gesellschaft. Von den Personendarstellungen, zum Schnitt bis hin zu den Stimmen – alles stammt aus seiner künstlerischer Feder.

Ausstellungsansicht in einer Berliner Altbauwohnung mit Stuck an den Decken. An den Wänden hängen Bilder.
Installationsfoto FREEDOM & INDEPENDENCE 2020.11 ©Ludger Paffrath Courtesy Ebensperger.

Womit wird man in der Ausstellung sonst noch konfrontiert? Unter anderem mit Genitalien, nackter Haut, Splatter-Motiven, Staatsoberhäuptern und vielen kleinen Päpsten. So finden sich beipielsweise eine provokante und sexualisierte Darstellung des Österreichischen Künstlers Otto Muehl (1925 – 2013), der sieben Jahre wegen Kindesmissbrauch im Gefängnis saß, unmittelbar über einer Vielzahl von Miniatur-Kugelschreiber-Bildchen, betitelt mit “Ökonomische Päpste”, der Schauspielerin und Künstlerin Lea Draeger.

Der Bruch des Ausstellungsraumes mit den gezeigten Arbeiten unterstreicht auf sehr humorvolle Weise das künstlerische Konzept der Galerie. Kunst ist nicht in erster Linie da, um zu gefallen oder “schön” zu sein, sie darf und soll sogar mit gesellschaftlichen Normen und Konventionen brechen und wird dadurch erst so richtig interessant. Ein kluger Gedanke.

Ausstellungsansicht einer Berliner Altbauwohnung mit offener Flügeltür in der Mitte.
Installationsfoto FREEDOM & INDEPENDENCE 2020.11 ©Ludger Paffrath Courtesy Ebensperger.

Beim Schlendern über das feine Fischgrätenpakett begegnet man außerdem der Videoarbeit “Match Point” (2006) von Assaf Gruber, der Objektinstallation “Chance” (2008) von Hajnal Németh, die auf einen Depeche Mode-Song anspielt, und auf textbasierte Kunst des Theaterautors und Künstlers Tim Etchells. Auch Collage-Arbeiten aus Alltagsgegenständen von John Bock sowie Kritzeleien und Fotografien des Straßenmusikanten und Schauspielers Bruno Schleinstein, kurz Bruno S. (1932 – 2010), die man auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt als Kunst identifizieren würde, warten in den Räumlichkeiten auf Beachtung. Das Schamlos-Witzige liegt vor allem in den Details.

Das Silent Green in Berlin-Wedding, ein ehemaliges Krematorium, das neben dem Friedhof Gerichtstraße gelegen ist, beherbergt neben Büros, Konzerträumlichkeiten und einem Café auch die zusätzlichen Galerieräume von Ebensperger in der Plantagenstraße 30 – dunkel, kühl und still. Der Ort an sich transportiert schon eine enorme Atmosphäre, die auf der einen Seite leicht bedrohlich und unbehaglich und auf der anderen Seite unfassbar reizvoll ist. Man möchte schon gerne wissen, was sich in der Dunkelheit verbirgt.

Videoarbeit von Björn Melhus. Man sieht den Künstler verkleidet als Ayn Rand.
Installationsfoto FREEDOM & INDEPENDENCE 2020.11 ©Ludger Paffrath Courtesy Ebensperger.

Hier trifft man in erster Linie auf bewegte Bilder und laute Sounds. Man darf durch ein Schlüsselloch (2016) von Heiner Franzen blicken, dabei zusehen, wie Hitler in Einzelteile zerstückelt wird (Jörg Buttgereit, “Blutige Exzesse im Führerbunker”, 1982) oder John Bock und Otto Mühl in einem kleinen Nebenraum eine künstlerische Interaktion eingehen. Definitiv ein Highlight in den Kellerräumen: Die Neonröhren mit dem Titel “Live Like” (2020) von Tim Etchells, die alles um einen herum in ein sattes Rot tauchen. In riesigen Lettern und mit flackerndem Licht erscheinen über eine lange Wand gestreckt immer wieder die Worte “LIVE LIKE THERE IS NO TOMORROW”. Ok, verstanden!

Kellerraum mit Neonröhren an der Wand, die den Raum in rotes Licht tauchen. Dort steht: Live like there is no tomorrow.
Installationsfoto FREEDOM & INDEPENDENCE 2020.11 ©Ludger Paffrath Courtesy Ebensperger.

Jede Form von Kunst hat irgendwo ihre Daseinsberechtigung, auch wenn wir sie vielleicht nicht immer verstehen. Auch rein ästhetische Kunst ohne tiefere Inhalte darf existieren und konsumiert werden – es liegt ja auch immer im Auge des Betrachters oder der Betrachterin, was als “ästhetisch” wahrgenommen wird. Dass es sich die Galerie Ebensperger aber zur Aufgabe gemacht hat, eben diese Kunst nicht zu zeigen, sondern rabiaten und auch teilweise recht fragwürdigen künstlerischen Positionen Raum zu geben, um wegzukommen von einem glatt gebügelten und perfektionierten Bild des Kunstschaffens, ist doch sehr erfrischend. Es ist wichtig, dass auch diese “düstere” und verruchte  Seite der Kunstszene abgebildet wird und ihre Verortung findet, denn erst der gegenseitige Austausch, die Befruchtung und Abwägung von “gut und schlecht” bringen neue diverse Ideen, die wir Menschen brauchen. Besonders in Zeiten, wo nichts selbstverständlich scheint.

Und hey, ist es nicht vielleicht auch gut zu wissen, dass es Künstler*innen gibt, die bereit sind, mit Normen und Konventionen zu brechen, die bereit sind, das zu tun und zur Sprache zu bringen, was wir uns vielleicht niemals trauen würden?! Wir werden in eine Welt eingeladen, die wir selbst vielleicht niemals kennengelernt oder betreten hätten, weil es in der eigenen Blase ja eigentlich doch auch immer ganz gemütlich ist. Ob wir die Einladung annehmen, bleibt uns überlassen.

WANN: Die Ausstellung läuft noch auf unbestimmte Zeit. Terminvereinbarungen für Besichtigungen sind jederzeit per E-Mail möglich.
WO: Die Ausstellung wird an den zwei Standorten der Galerie Ebensperger gezeigt, in der Meinekestrasse 5, 10719 Berlin und in der Plantagenstraße 30, 13347 Berlin.

Weitere Artikel aus Berlin