Verkehrte Welt
Dozie Kanu im Neuen Essener Kunstverein

13. Oktober 2022 • Text von

Umgekehrte Möbelstücke erzählen von einer verkehrten Welt, in der struktureller Rassismus und Gewalt noch immer an der Tagesordnung sind. In der Erweiterung Schwarzer Materialkultur spielen sie mit kulturellen Kontrasten, greifen ausgehend von autobiografischen Erinnerungen subtil auf gesellschaftliche Verantwortlichkeiten aus. Zwischen den Objekten entspinnt sich so ein Dialog, der Stillgelegtes in Bewegung versetzt, Verschüttetes freilegt und eine neue Welt entwirft. Bühne frei für Dozie Kanu im Neuen Essener Kunstverein.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Drei Akteure auf einer Bühne, zwei Stühle und dazwischen ein runder Tisch. Seltsame Möbelstücke, als solche erkennbar, aber unhandlich, teilweise ihrer ursprünglichen Funktion entrückt. Sie sind platziert, als würde jeden Moment jemand in Aktion treten, ein Theaterstück beginnen. Die Besuchenden aber warten vergeblich, niemand betritt die Bühne und die scheinbar unbespielten Requisiten bleiben allein für sich. Vielmehr haben sie selbst die Hauptrolle inne, stehen sie doch die Bühne nutzend im Rampenlicht. Der stählerne Tisch in der Mitte gleicht dabei einer tödlichen Vorrichtung, wenn die runde Platte wie ein Gehängter am Galgen sitzt, sie zur Hälfte weißer Leinwandstoff bedeckt. “canvas on table turnings” scheint auf den Kopf gestellt, erhielte seine Richtigkeit erst in einer umgekehrten Welt.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Ganz ähnlich dem violett gemusterten Stuhl, dessen Material so arg nach Holz aussieht, aber der sich stattdessen aus bemaltem Stahl zusammenfügt. Man könnte meinen, es handele sich bei dem Sitzmöbel um ein Designerstück, doch fehlen Sitzfläche und Rückenlehne, was den Stuhl seiner eigentlichen Funktion enthebt. Vergleichbar setzt sich ein zweiter Stuhl aus gefundenen Objekten zusammen, einem geflochtenen Hocker und darauf aufsitzend einem stählernen Ölcontainer. Für das Auge ist es eine ungewöhnliche Kombination, könnte der entstandene Materialkontrast kaum härter sein.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Damit könnte die Beschreibung enden, gibt es abseits der drei Möbelstücke auf der Plattform nichts zu sehen. Doch sobald der Blick sich weitet, pirschen sich noch zwei weitere skulpturale Objekte von der Seite an. Wo die eine Skulptur etwas entfernt solitär für sich alleine steht, scheint es als würde die andere nach einem Platz auf der Bühne begehren. Ganz so als wolle sie die Szenerie betreten, würde jedoch am Rand noch den passenden Einsatz erwarten. Dieser zweite gedrehte Tisch steht ebenfalls Kopf, hat an seinen nach oben weisenden Füßen schwarze Spikes wie stachelige Kletten angebracht. Gespalten durch die untere Ablage des Tischs – jetzt die obere Fläche – ragt zudem ein auf die Seite gedrehter, gefundener Widderkopf hervor, geformt aus goldglänzendem Messingguss.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Die zweite skulpturale Intervention weicht von den übrigen Objekten in der Materialwahl deutlich ab, unterscheidet sich auch in ihrer plakativen Farbigkeit. Sie ist aus durchsichtigem, wasserabweisendem Plastik gefertigt, einige Teile sind dabei in ein leuchtendes Rot und Blau getaucht. Was auf den ersten Blick in der minimalistischen, klaren Formsprache überzeugt, entpuppt sich als eine Art sogenanntes Formicarium. Dabei handelt es sich um ein der Beobachtung von Ameisen dienendes Behältnis, in welchem die Insekten von der einen zur anderen Seite durch eine gläserne Tunnelröhre kriechen, nur um gefangen in endlos währenden Zeitschleifen wieder zum Anfangspunkt zurückzufinden.

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Dozie Kanu, Chair [xvi], 2022, found steel oil container, found woven stool, steel, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Der Szenerie im Neuen Essener Kunstverein sieht man Künstler Dozie Kanus Interesse an der Filmregie an, die er zunächst in New York zu studieren begann, sich jedoch schon bald mehr dem Produktdesign zuwandte. Als Kind nigerianischer Eltern in Texas aufgewachsen, hat sich Kanu als zwischen zwei Kulturen Treibender immerzu fremd und heimatlos gefühlt. 2018 reiste er dann zum ersten Mal nach Nigeria ins Land seiner Eltern, lernte die robuste Ästhetik afrikanischen Handwerks kennen, welche den zuvor von ihm präferierten minimalistischen Formen diametral entgegensteht. Diese und folgende Reisen wirken nach, wenn in seinen neuen Objekten beide Ästhetiken sich vereinen, traditionell bunte Bemalung auf kalten Stahl trifft, er einen in Nigeria gefundenen, geflochtenen Hocker und einen alten Ölcontainer zusammensetzt.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Die Herstellung von Objekten erscheint Kanu plötzlich ebenso interessant wie das Endprodukt, wenn in Nigeria aufgrund der sozioökonomischen Lage schnelle und kostengünstige Lösungen gefordert sind, bereits vorhandenes Material zwangsläufig wiederverwendet wird. Oft bedient sich Kanu solch gefundener Objekte, denen Geschichten und Erinnerungen untrennbar eingeschrieben sind. Aus der Beobachtung einer durch die afrikanische Diaspora bedingten fehlenden Schwarzen Materialkultur, steht seine bildhauerische Praxis in Ergänzung zu Musik oder Tanz, zu immateriellen Praktiken. Kanus Interesse gilt hier besonders dem Punkt, an dem die praktische oder spirituelle Funktion von Objekten im Kunstkontext verloren geht. Die auf Platten errichtete Bühnenkonstruktion versetzt die Skulpturen in Essen in Bewegung, beugt in ihrer Permeabilität und Transportfähigkeit einer derartigen Stilllegung vor. Der Stuhl ist dabei ein wiederkehrendes Objekt, zugleich Leitmotiv Schwarzer Südstaatenkunst, welches das Fehlen eines Körpers betont, als würde das Sitzmöbel von einem unsichtbaren Geist durchströmt.

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Dozie Kanu, untitled (Merrill), 2022, found brass casted rams head, acrylic polyurethane enamel paint, steel, anti-climb raptor spikes, epoxy sculpting clay, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Kanus Kunst ist autobiografisch angelegt, entsteht jedoch gleichermaßen aus einer gesellschaftlichen Verpflichtung heraus. “untitled (Merrill)” spielt beispielsweise auf die amerikanische Großbank Merrill Lynch an, in der 2013 über tausend Schwarze Mitarbeitende wegen rassistischer Diskriminierung einen Vergleich erwirkten. Struktureller Rassismus und Gewalt, wie die im Bankennamen anklingende texanische Lynchjustiz, äußert sich auch in den oben aufsitzenden Dornenkugeln, die an afrikanische Totems erinnern und als sogenannte “anti-climb raptor spikes” auf der eigenen Gartenmauer angebracht, Eindringlinge vom widerrechtlichen Hinüberklettern abhalten sollen. Das biblische Symbol des Widders kann zudem gleichermaßen für Aufopferung wie Überwindung stehen, ist als Kopf omnipräsent in Schwarzer Subkultur.

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Dozie Kanu, numb + dumb consciousness, 2022, Acrylic, water absorbing plastic, rubber paint,© the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Die in den amerikanischen Nationalfarben gestaltete Ameisenfarm “numb + dumb consciousness” weist mit den evozierten Zootieren ziemlich eindeutig auf die Brutalität der landeseigenen Sklaverei-Geschichte hin, in der Menschen nur aufgrund ihrer Arbeitskraft an Wert besaßen, als Individuen wie lästige Insekten zugleich wertlos waren. Vergleichbar formen die Ameisen eine hinter Glas eingeschlossene Masse, die es zwischen Nest und dem Ende des Tunnels in einem ewigen Kreislauf hin- und hertreibt, ohne dass sie das Hamsterrad je verlassen. Einziger Zweck ist die ständige Bewegung, das in Arbeit halten, ein scheinbar sauberes und transparentes, aber in Wirklichkeit brutales System der Ausbeutung.

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Dozie Kanu, “Cordyceps Gaud Adversary”, Installationsansicht, Neuer Essener Kunstverein, © the artist and Philipp Kurzhals/Neuer Essener Kunstverein.

Das prismatisch angelegte Bühnenbild gewährt über die verschiedenen Objekte diverse Einstiegspunkte, ist nicht auf eine Deutung festgelegt. Dies entspricht auch dem Ausstellungstitel “Cordyceps Gaud Adversary”, einer unzusammenhängenden Assoziationskette, die unter anderem mit dem ersten Begriff auf die gleichnamige parasitäre Pilz-Art verweist, welche Ameisen als Wirte befällt, aus deren Köpfen wächst und sie zu willenlosen Zombies verkehrt. Dabei evozieren die Requisiten ganz ohne Körper einen eigenen Film, spinnen ein Narrativ, das sich unwillkürlich vor den Augen der Betrachtenden abspielt.

Die Objekte treten selbst performativ in Erscheinung, kommunizieren wie handelnde Akteure, erzählen in ihrem Zusammenspiel von der Begegnung zweier Kulturen, von deren Kollision und dem Bruch mit allem Gewesenen. Kanu stellt so die althergebrachte Welt auf den Kopf, spielt mit “table turnings” auf eine Neuordnung der Karten an, wenn sich auf neu geschaffenen Bühnen die Verhältnisse umkehren. In und mit Kunst träumt er von der Erschaffung neuer Welten, von der tatsächlichen Errichtung einer Stadt, einer Gemeinschaft, die alles anders als bisher macht. Angesichts der auf den Kopf gestellten Möbel wird erkennbar, dass die dornenbewehrte Realität verkehrt herum ist, man sie einmal kräftig schütteln müsste, bis sie endlich auf den Füßen steht.

WANN: Die Ausstellung “Cordyceps Gaud Adversary” läuft noch bis Sonntag, den 27. November.
WO: Neuer Essener Kunstverein, Bernestraße 3, 45138 Essen.