Doppelbodeninseln im Archipel
Räumliche Formulierungen einer Sammlungsschau

18. Dezember 2019 • Text von

„Im Raum die Zeit lesen“ besticht durch ein prägnantes und vielschichtiges Ausstellungsdisplay. Die Ausstellungsarchitektur von Nicole Six und Paul Petritsch für die mumok Sammlungspräsentation wird selbst zur Skulptur im Sinne der Objekte, die sie beinhaltet und zeigt.

Ausstellungsansichten „Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1910 bis 1955.” Photo: Lisa Rastl © mumok

Ausstellungsansicht „Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1910 bis 1955.“ Photo: Lisa Rastl © mumok

Also lesen wir im Raum und mit dem Raum die Zeit – die Kunstbegriffe und künstlerischen Definitionen der Moderne, sowie ihre zeitlichen Parallelen und Verwebungen. Das Duo Nicole Six und Paul Petritsch inszeniert die Sammlungsausstellung des mumoks auf Doppelböden. Bestehend aus Trägerplatten, die sich durch Metallfüße von der eigentlichen Rohdecke abheben, wird diese besonders im Bürobau eingesetzte Konstruktionform im mumok zu Podest und Sockel. Vier erhöhte Inseln schweben im Raum. Sie verschreiben sich je einem Buch- oder Ausstellungsprojekt aus dem Zeitraum 1910 bis 1930, das eine künstlerische Eigenbetrachtung der Stilepoche Moderne initierte. Diese Projekte bilden das Referenzgerüst der Objekte, Werke und Arbeiten prominenter Künstlern und einiger Künstlerinnen um und auf den alubeschichteten, hochgeständerten Trägerplatten des Doppelbodens. Sukzessive wird die silberne Oberfläche der Podeste von Farben durchbrochen. Blau, Ocker und Schwarz lassen die Inseln mit den Ausstellungsexponaten verschmelzen und spülen sich als Teppichböden an die umliegenden Trennwände, die den Raum brechen, aber nicht teilen.

Ausstellungsansicht „Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1910 bis 1955.“ Victor Servanckx, „Bild Opus 45,“ 1923. Trude Fleischmann, „Aktstudie Claire Bauroff,“ 1925. Francis Picabia „Ganga,“ 1927-29. Robert Delaunay, „Relief blanc,“ 1936. Photo: Lisa Rastl © mumok

Das Trennwandsystem ist in seiner Durchlässigkeit und in seiner Materialität vielfältig: Spiegelwände, Lamellenwände, Vorsatzschalen, schwarze Solids lösen die Homogenität des weißen Kubus’ auf. Entsprechend variiert der Hintergrund der hängenden Exponate: Malereien hängen auf Spiegeln und verorten die Besucher*innen als Betrachter*innen im gleichen räumlichen Setting. Lamellenwände erlauben Durchblicke, sodass die Betrachtung eines Werkes oftmals den Blick auf ein weiteres Werk im anschließenden Teilbereich bedingt und miteinschließt. Die Suche nach einem Untergrund, nach einem gemeinsamen Boden und Hintergrund, verbindet die Exponate miteinander. Die Flüchtigkeit der Begegnung mit anderen Besucher*innen im transparenten Wandsystem vermittelt dieselbe Zeitlichkeit. Keine Inselgruppe ist hermetisch abgeschirmt oder dauerhaft verankert. Im gemeinsamen Raum-Arrangement finden sich Ideen von Flexibilität und changierenden Strukturen frühmoderner Architekturexperimente wieder.

Ausstellungsansicht „Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1910 bis 1955.“ Georges Mathieu, „La tête en bas,“ 1951. Walter Dahn, „The Attack of the Bats in Max Ernst’s Birthplace,“ 1984 -85. Photo: Lisa Rastl © mumok

Wie die Doppelbodenpodeste werden auch die Trennwände durch Metallstangen fixiert. Ihre rote Farbe setzt sie in direkten Bezug zu vielen der Werke, die durch die Verwendung von klaren, geraden, oftmals ebenfalls roten, Linien auffallen: Sie finden sich bei Vladimir und Georgij Sternbergs Bühnenbildarbeiten, sowie in Hans Richters „Fuge in Rot und Grün.“ Lászlo Moholy-Nagy, Paul Mansouroff und Natalia Gontcharovas Gouache aus den „Portraits Theátraux“ zeigen ebenso rote Vertikalen. Die Reminiszenzen an Pavillion-, Messe-, und Experimentaldisplays brechen erst an den schwarzen, raumhohen Volumen, die Hans Tietzes Ausstellungsprojekt „Die Kunst in unserer Zeit“ gewidmet sind. Tietzes Ausstellung sowie die dazugehörige Publikation bilden den einzigen Teilbereich, der keine künstlerische Betrachtung der Moderne formuliert, sondern einen kunsthistorischen Blick auf diese Epoche ins Zentrum stellt. Die Solids erinnern an museale Räume, zu denen sich die Kunstschaffenden der Moderne langsam Zugang verschafften. Gleichzeitig können die – im Gegensatz zu den langen Trennwandkompositen – gekürzt anmutende Volumina in gestrichelter Linierung, als jene Zäsur interpretiert werden, dem die Strömungen der Moderne durch faschistische Diktaturen ausgesetzt waren.

Ausstellungsansicht „Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1910 bis 1955.“ Max Ernst, „Festmahl der Götter,“ 1948. Pablo Picasso, „Femme assise à L’écharpe verte,“ 1960. Photo: Lisa Rastl © mumok

Six und Petritschs Anordnung der Trennwände und Podestgruppen formt selbst ein abstraktes Bild im Sinne der Exponate und der von den Vertreter*innen der Moderne propagierten Ideen zu Raum und Zeit. Das Display stottert und stockt, gruppiert, verbindet, durchdringt. Lesearten und Choreografie wandeln sich durch Abkürzungen in der Raummitte. Die Lamellenwände verschneiden die Inseln und die sie umgebenden Werke. Im Ausstellungsraum entsteht ein architektonisches und installatives Archipel, das Zeitläufe und künstlerische Intentionen freilegt. Die Verbindung und der Raum zwischen den einzelnen Werken – den Erhöhungen im Archipel – erhalten dieselbe Wichtigkeit, wie die Elemente an der Oberfläche selbst. Nicht die einzelne Arbeit, sondern die Gesamtheit zwischen Architektur, Bühnenbild, Fotografie, angewandter Kunst und Display zeichnet einen Raum, der sich mit den Elementen wandelt und durch die Elemente wandelt – sich erweitert und auch zurückzieht.

WANN: Die Ausstellung ist bis 13. April 2020 zu sehen. Zwischen den Feiertagen gelten andere Öffnungszeiten. Alle Infos finden sich hier.
WO: Im mumok, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Museumsplatz 1, 1070 Wien.

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