Diverse Dekonstruktion
Die neue Publikation "Mind Over Matter" von Femxphotographers.org

9. November 2022 • Text von

Mit “Mind Over Matter” hat das feministische Kollektiv Femxphotographers.org nach “The Body Issue” ihre zweite Publikation veröffentlicht. Ziel ihrer künstlerischen Arbeit: den männlichen Blick in der Fotografie dekonstruieren. Na, das schauen wir uns doch gerne genauer an!

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Claudia Holzinger, Vacuum‘in space, 2022, digital collage.

Die neuste Veröffentlichung “Mind Over Matter” von Femxphotographers.org ist in erster Linie eines: ein prall gefüllter Bildband mit fotografischen Arbeiten von 33 Künstlerinnen*, die auf unterschiedliche Art und Weise das Thema Weiblichkeit und Fragen nach den Darstellungsformen weiblicher Körper be- und verhandeln. Mit Foto- und Textwerken in der Publikation vertreten sind unter anderem Katharina Bosse, Jennifer Greenburg, Claudia Holzinger, Masako Hirano, Cindy Sherman, Eva Woolridge und Alok Vaid-Menon – um nur einige Namen zu nennen.

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Eva Woolridge, From the series: The Size of a Grapefruit Blinding Pain, 2019.

Das Kollektiv Femxphotographers.org um Maggie Steber, Claudia Holzinger, Yushi Li, Janina Zais, Caro Siegl, Paula Winkler und weiteren ist ein unabhängiger Verbund von internationalen Fotografinnen*, die den zeitgenössischen Diskurs innerhalb der Fotografie mit ihren Positionen, Ausstellungen, Panels und Publikationen aktiv mitgestalten. Für “Mind Over Matter” wurde das Kernteam um Gastkünstlerinnen und -Autorinnen* erweitert. Doch warum haben sie sich zusammengeschlossen? Sie wollen den fotografischen Diskurs nicht nur aktiv mitgestalten, sondern primär männlichen Erzählweisen, dem sogenannten “Male Gaze” etwas entgegenstellen und weiblichen Visionen Raum geben. Doch ebenso findet hier auch Gender-Nonkonformität ihren Platz. Das Denken in den Kategorien “Frau” und “Mann” wird aufgebrochen und auch allen Facetten, die dazwischen liegen, Ausdruck verliehen.

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HOLZINGERurbat/, From the series: Now we have the Salad.

Umrahmt werden die 122 Bilder von Essays, Briefen, Gedichten und Gedanken. In “Cyborg-Schamanismus als neues Manifest für Frauen” (Original: “Cyborg Shamanism as a new Manifesto for Womxn”) verhandelt die Autorin Adah Parris den Feminismus-Begriff kritisch. Für sie sei es ein schwieriger Begriff, definitiv nicht die Lösung der Probleme von Frauen, aber dennoch ein Startpunkt für feministische Diskurse, ein erstes Wegweisen und eine erste Form der Selbstreflexion. Sie appelliert in ihrem Text an die Frauen*, sich von der Ich-Bezogenheit zu verabschieden und an dem Wir zu arbeiten, sich gegenseitig zu respektieren und sich füreinander stark zu machen. Die Diversität untereinander wertzuschätzen statt sie zu bekämpfen. Der feministische Begriff scheint nach Adah Parris oft doch nur eine Hülle zu sein und ebenso Angriffsflächen zu bieten – auch für den Kampf von Frauen* untereinander: “Ich möchte mich also nicht auf die Ästhetik der so genannten Frauenbewegung konzentrieren, sondern auf die Ethik wie wir zusammen leben, koexistieren und gedeihen.”

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Masako Hirano, From the series: selfie portrait.

In einem Briefwechsel von 2020 zwischen Simon(e) van Saarloos und Kim TallBear, die “kritische Polyamore”, tauschen sie sich über das Scheitern der Monogamie und ihre sexuelle Freiheit aus. Sie gehen regelrecht mit dem Lebensmodell der Monogamie ins Gericht und sprechen sie klar für die Polyamorie aus. In dem Text “Die Kamera kann uns nicht nach Hause bringen” (Original: “The Camera can not walk us home”) beschreibt Avok Vaid-Menon die Alltagsschwierigkeiten, die Gender-Nonkonfirmität für Menschen mit sich bringt. Vor der Kamera scheint oft der einzige Ort zu sein, an dem es gestattet ist, einfach zu sein, sich aus dem Status des Objektes befreien zu können, aber die Kamera kann einen eben nicht sicher nach Hause bringen. Heutzutage sehen wir glücklicherweise immer mehr nicht-binäre Menschen – Repräsentation ist gut. Aber stellen wir, wir gender-konformen Menschen, uns eigentlich jemals die Frage, wie ihr Leben tatsächlich außerhalb der Kamera aussieht? Avok Vaid-Menon setzt sich dafür ein, dass es nicht nur das gesellschaftliche Ziel sein kann, nicht-binäre Menschen zu inszenieren und abzulichten. Es sollte ihnen möglich sein, ihre eigene Identität überall ausleben zu können und auf allen Straßen dieser Welt Mensch sein zu dürfen.

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Weronika Gesicka, From the series: Traces Untitled #22, 2015-2017.

“Mind Over Matter” zelebriert den weiblichen und nicht-binären Blick, es ist ein Akt der Selbstermächtigung in Bildern und Texten. Wir sehen diverse weiblich zu lesende Körper und einzelne Körperteile, nackte Haut, unterschiedliche Altersgruppen, Detail- und Ganzkörper-Aufnahmen. Mal verkleidet, mal ohne jeglichen Stoff. Mal sinnlich, mal humoristisch posierend. Pissoirs werden bepflanzt oder Autos dekonstruiert. Die Künstlerinnen von Femxphotographers.org und ihre eingeladenen Gäste bringen hier eine visuelle Vielseitigkeit zusammen, der in dieser Form vielerorts noch keinen Raum geboten wird. In den nationalen und internationalen Ausstellungen werden noch immer mehr männliche Positionen gezeigt, von Gleichberechtigung nach wie vor keine Spur. Wenn die Institutionen noch schlafen, werden Künstlerinnen* eben umso wacher. Es bleibt spannend, welches Medium das Kollektiv als nächstes auswählt um sich und ihren eigenen Visionen den Raum zu verschaffen, den sie verdienen. Wir werden hinschauen.

Künstlerinnen*: Damit sind nicht nur Frauen angesprochen, die sich als weiblich identifizieren und mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, sondern auch alle, die, unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, als weiblich gelesen werden oder gelesen werden möchten. Die Bezeichnung schließt außerdem genderfluide und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten mit ein.

Die Publikation “Mind Over Matter” wird von Hatje Cantz herausgegeben und ist hier erhältlich. Für den Artikel wurde der Autorin ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.