Disparate Empathie Die „Love Story“ von Candice Breitz
28. Juni 2017 • Text von Eva Beck
Möchte nicht jeder kultivierte, gebildete Mensch gerne von sich behaupten, über ein angemessenes Maß an Einfühlungsvermögen zu verfügen? Gilt nicht Weltschmerz heutzutage als nobel? Dass Empathie aber nichts mit Willen zu tun hat, lässt uns Candice Breitz am eigenen Leib spüren.
Der Zufall will es nicht, dass man hier landet – nein, man muss es sich schon aktiv vornehmen, die Galerie KOW in Mitte zu besuchen. Allzu wahrscheinlich ist es, dass man zunächst eine Weile auf der Brunnenstraße herumirrt und die Fassaden konzentriert nach der richtigen Hausnummer absucht. Bis man den Hinterhofeingang und anschließend die Außentreppe findet, die in den aus architektonischer Sicht anspruchsvoll konzipierten, dreistöckigen Kunstkubus führt. Und das ist auch gut so, denn hier wird vom Besucher derzeit ein Maß an Aufmerksamkeit und Sensibilität abverlangt, dem der Anspruch, „mal eben ein bisschen Kunst gucken“ zu gehen, kaum gerecht werden kann.
Sogleich man die Galerie betritt, wird man von emotional aufgeladenen, vage vertrauten Stimmen in das untere Zwischengeschoss des Baus gelockt. Hier, hinter einem schweren Vorhang präsentiert die südafrikanische Video- und Medienkünstlerin Candice Breitz auf einer Leinwand in Kinogröße ihre „Love Story“. Hollywoodstars Julianne Moore und Alec Baldwin sitzen vor einem künstlichen, ortlosen Greenscreen auf Regisseurstühlen und stellen zunächst sich selbst dar – die Profischauspieler der westlichen Entertainmentelite. Doch die Geschichten, die die beiden in Ich-Form und mit durchtrainierter Mimik und Gestik wiedergeben, liefern ein uneinheitliches Bild: Mittels geschickter Montagetechnik wird zwischen den zwei Schauspielern in schnellem Tempo hin- und hergesprungen, während sie selbst ebenfalls von einer Identität in die nächste schlüpfen. Nach einer kalkulierten Irritationsphase kristallisieren sich allmählich konkrete Narrative mit einem gemeinsamen Nenner heraus. Von dem überzeugten Atheisten aus Somalia, der indischen Hijra, dem homosexuellen Professor aus Venezuela, der syrischen Leistungsschwimmerin, dem ehemaligen Kindersoldat aus Angola und einem Vergewaltigungsopfer auf der Demokratischen Republik Kongo. Hier werden tragische Schicksale verwertet, die den Aspekt der Flucht gemeinsam haben.
Mal hängt man den beiden Rhetorikprofis gebannt an den Lippen, die die Erlebnisse Fremder als ihre eigenen ausgeben. In anderen Momenten kommt Ärger auf, denn die Vorstellung von glamourösen Weltstars in derartigen Rollen scheint grotesk. Doch schöpfen sie ihre schauspielerischen Fähigkeiten vollkommen aus, um den Geschichten gerecht zu werden. Sie verrichten augenscheinlich ein Handwerk und sie verrichten es gut, doch voll und ganz abnehmen kann man es ihnen nicht. Und auch hier ist das gut so, die Diskrepanz ist wichtig.
Das Misstrauen löst sich auf, wenn man schließlich, bestenfalls nach 74 Minuten, den nächsten Schritt in das Untergeschoss wagt. Hier befindet sich das Fundament von „Love Story“. Hier sprechen die stummen Stimmen jener sechs Individuen, derer sich das Skript für die Videomontage im oberen Stockwerk in komprimierter Form bedient. Sie blicken dem Besucher von dem gleichen ortlosen Greenscreen entgegen und berichten in ungekürzter Form und gebrochenem Englisch von ihrer eigenen Flucht aus der Heimat. Über Kopfhörer kann man ihren Erzählungen beiwohnen, kann in den nachdenklichen Pausen oder sprachlichen Verhaspelungen den Kontrast zu der getakteten Version desselben Inhalts feststellen.
Auch wird deutlich, dass die tragischen, hollywoodreifen Erlebnisse der Einzelnen nicht ausgeschlachtet werden, sondern dass kooperiert wird zwischen den Geflüchteten, der Künstlerin, und den Superstars. In Momenten der Unsicherheit oder des Nachdrucks sprechen die Interviewten direkt mit „Candice“. Man spürt den persönlichen Bezug deutlich. In anderen Fällen appellieren sie an Moore und Baldwin, ihre Geschichte entsprechend zu vermitteln, denn sie sind dankbar für das Sprachrohr, ohne welches sie in den Medien nur als Schatten einer Masse mit vergleichbaren Schicksalen wahrgenommen werden. Misstrauen wandelt sich nun in Beklommenheit, denn alsbald wird deutlich, dass selbst der ambitionierteste Galeriebesucher nicht in der Lage ist, ihnen Gehör zu schenken.
Das ungekürzte Videomaterial von 22 Stunden ist weder zeitlich noch psychisch zu bewältigen, man muss selektiv vorgehen und Lücken lassen. Es ist dabei nicht hilfreich, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne in Hinblick auf zeitgeschichtliche Geschehnisse immer kürzer wird. Man meint, dank der Eilmeldungen auf dem Handy und den Headlines der Tageszeitungen informiert zu sein, für mehr fehlt die Kapazität. Wie soll man so noch den Gehalt dieser Nachrichten einschätzen, zwischen Realität und Inszenierung unterscheiden können? Auf diese Strukturen unserer Wahrnehmung und unseres Empathievermögens wirft Breitz ein unangenehm helles Licht. Es fällt uns um einiges leichter, die geskriptete, getaktete, gespielte Version von Leid in uns aufzunehmen, mitzufühlen und uns gleichzeitig heimlich unserer eigenen Sicherheit zu frönen. Relevante soziale Themen finden auf Spielfilmlänge begrenzt plötzlich Raum und Anklang. Doch die rohe, die echte Version erscheint zu schwer zu ertragen. Statt aufrichtigem Mitgefühl löst sie ein Unbehagen aus: dem eigenen Wohlstand gegenüber, dem eigenen Geiz und der Untätigkeit. Auf einmal wird bewusst, wie viel man selbst zu verlieren hat, und daran möchte man nicht erinnert werden. Für wen riskieren wir die eigene Unsicherheit? Wann sind wir bereit, benachteiligten Mitmenschen unser limitiertes Kontingent an Empathie entgegenzubringen ohne zu fetischisieren?
So verlässt man mit schleichender, beißender Unruhe die stylische Mitte-Galerie, reuevoll und desillusioniert. Und auch das ist nicht nur gut so, sondern elementar für die Wirkweise der Ausstellung.
WANN: Die Ausstellung „Love Story“ ist noch bis zum 30. Juli zu sehen. Ausführliche Informationen zu dem Projekt sind auf der Website der Künstlerin abzurufen.
WO: KOW, Brunnenstraße 9, 10119 Berlin.