Auf der Suche nach Authentizität

24. November 2017 • Text von

Wertvolle Dokumentation oder verwestlichte Inszenierung? Kontroverse Reaktionen rief die Arbeit des Fotografen Jimmy Nelson jüngst hervor. Der gebürtige Brite bereiste jahrelang die Welt um die letzten unberührten Zivilisationen aufzuspüren und sie in ihrem natürlichen Siedlungsraum zu porträtieren. Das Ergebnis kann sich zweifellos sehen lassen. Seine Bilder strahlen eine nahezu mystische Aura aus und sind von beeindruckender Ästhetik, die dem Fotografen jetzt jedoch zum Verhängnis wird. Denn trotz seines weltweiten Erfolges erntet er scharfe Kritik.

Doch man sollte sich immer zuerst sein eigenes Bild machen. An diesem Mittwochmittag gehöre ich zu den ersten Besuchern der Jimmy Nelson Ausstellung im Museum of Urban and Contemporary Art, kurz MUCA. Das von außen etwas hipsterig anmutende Gebäude hat sich auf die Fahne geschrieben, Streetart in den zeitgenössischen Kunstdiskurs einzufügen und die junge Kunstform zu musealisieren. Nun gut. Das soweit dazu.

In diesem Fall geht es jedoch weder um Street-, noch um Urbanart, sondern ganz im Gegenteil um die entlegensten Orte dieser Welt und die Menschen, die diese bewohnen. Der Fotograf Jimmy Nelson wurde bekannt für seine Porträts von indigenen Völkern, die auch heute noch weit weg von jeder Zivilisation leben. Hierfür besuchte er die Huaorani in Südamerika, die Maasai, Himba und Mursi in Afrika, reiste über Nepal in die Mongolei nach Indien, um dort die Rabari zu fotografieren, suchte die Tschuktschen in Sibirien und fand die Vanuatu im Südpazifik. Inzwischen hat Nelson insgesamt 35 Völker dokumentiert, zahlreiche Tedtalks gehalten und das 5 kg schwere Bildband Before they pass away vermarktet. Seine großformatigen Fotografien erstrecken sich nun vor mir auf der überdimensionalen Wand des Ausstellungsraumes, welcher durch Kachelfenster beleuchtet wird. Von einer zweiten Ebene lassen sich die oberen Reihen und weitere Bilder begutachten.

Nun ist Nelson tatsächlich nicht der erste Fotograf, der auf die Idee kam traditionelle Volksstämme mit einer Kamera festzuhalten. Das Exotische hatte schon immer eine magische Anziehungskraft auf die Menschen der westlichen Zivilisation ausgeübt. Seine Fotografien generieren aber, im Gegensatz zu vielen Anderen, ein vermeintliches Gefühl von Verbundenheit zwischen Betrachter und Dargestellten, die auf einmal nicht mehr fremd, sondern nahbar wirken. Dabei wechselt kontinuierlich die Perspektive von weitwinkligen Gruppenporträts vor imposanten Landschaften hin, zu großformatigen Nahaufnahmen einer oder weniger Personen. Durch diese Verfahrensweise treten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen erst deutlich zum Vorschein. Inspiriert wurde Nelson durch den Fotografen Edward Sheriff Curtis, der vor etwa 100 Jahren seinerseits die amerikanischen Ureinwohner porträtierte. Seine Aufnahmen entpuppten sich später als wichtiges Dokumentationsmaterial, welches Rückschlüsse in Hinblick auf Kultur und weitere Entwicklung zuließ.

Besonders deutlich wird in dieser Ausstellung auch, dass Nelson nichts dem Zufall überlässt. Seine Fotografien sind perfekte Kompositionen, denen makellose Symmetrien zugrunde liegen. Unverkennbar ist das fotografische Auge, welches noch das kleinste Detail stets im Blick hat. Für diesen Aspekt seiner Arbeit wurde Nelson ebenso stark kritisiert, wie für den Titel seines mehrjährigen Projektes. Besonders die Angehörigen der Nixiwaka Yawanawá aus dem Amazonasgebiet brüskierten sich darüber, denn Before they pass away würde suggerieren, dass ihre Kultur in naher Zukunft aussterben würde. In diesem Zusammenhang wurde außerdem darauf hingewiesen, dass die indigenen Völker nicht einfach „verschwinden“, sondern in Wahrheit aktiv vertrieben, ihrer Ressourcen beraubt und in der Vergangenheit sogar ermordet wurden. Darüber hinaus sei Nelsons Darstellung romantisierend und ebenso realitätsgetreu wie die Aufnahmen in Hochglanzmagazinen, denn viele dieser Stämme seinen mittlerweile in der westlichen Gesellschaft angekommen und würden seit mindestens einer Generation normale Alltagskleidung tragen, so der Vorwurf des Survival International Direktors Stephen Corry.


Hält Nelson dem Betrachter also nur seine eigene exotische Vorstellung dieser indigenen Völker vor? Der amerikanische Kunsthistoriker Hal Foster verfasste 1996 den Text The Artists as Ethnographer?. In diesem weist er auf die Gefahr der ideologischen Patronage hin, in welche sich ein Künstler zwangsläufig begeben muss, wenn er als quasi Anthropologe exotische Kulturen erforscht. Dabei versuchen Künstler oft sich selbst in diesen fremden Völkern wieder zu finden und verfallen dabei einer neuen Form des Narzissmus. Ob Nelson in diese, von Foster beschriebene, Falle getappt ist oder nicht, bleibt zunächst mal dahingestellt. Aber zumindest kann argumentiert werden, dass Nelson im Gegensatz zu vielen Hilfsorganisationen, die Ureinwohner nicht als Opfer der westlichen Zivilisation darstellt, sondern als stolze, kultivierte Menschen, die es geschafft haben ihre Kultur über die Jahre zu bewahren.


Nelsons Suche nach den „Wurzeln westlicher Zivilisation“ ist dabei emblematisch für die Kunstwelt. Denn nicht ohne Grund wurden bei der diesjährigen Biennale in Venedig, die Arsenale zu Themen wie Gemeinschaft, Tradition und shamanischen Kulten gestaltet. Es geht dabei nicht um eine Rückkehr zum Primitivismus, sondern um die Suche nach Authentizität, die dem Menschen in der digitalisierten und artifiziellen Welt abhandengekommen zu sein, scheint. Trotz oder gerade wegen dieser Ambiguität ist die Jimmy Nelson Ausstellung einen Besuch wert. Wer die Zeit hat, sollte einen Blick in Nelsons Bildband Before they pass away werfen, dort sind alle Stämme aufgeführt und mit kurzen Beschreibungen versehen.

WANN: Die Ausstellung ist bis zum 4. März 2018 zu sehen.
WO: Museum of Urban and Contemporary Art (MUCA), Hotterstraße 12, 80331 München.

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