Die Ausstellung als Buch Sebastian Jungs "Drachen Burgen Juden Hass"
30. November 2020 • Text von Marian Wild
Sorgen, Hoffnungen und gutes Essen – davon berichtet „Drachen Burgen Juden Hass“. Zusammen mit einem bemerkenswerten Think Tank realisiert Sebastian Jung eine digitale Reflexion über jüdisches deutsches Leben im Großen und im Kleinen.

Die Thora ist eine Schriftrolle. Diese simple, allgemein bekannte Tatsache ist schlicht darauf zurückzuführen, dass die Texte der Thora einige Jahrtausende älter sind als die Erfindung des Buchs. Zweifellos ist das Buch eine der wirkmächtigsten Erfindungen in der Menschheitsgeschichte, der Inbegriff von Kontinuität, Verlässlichkeit, Schutz. Aber die Thorarolle ist viel älter, viel kontinuierlicher und beständiger, gleichsam viel angegriffener und bedrohter in der Geschichte. Wann wurden in der Geschichte der Menschheit jemals massenhaft Bibeln geschändet und verbrannt?
Sebastian Jungs formale Entscheidung, seine digitale Ausstellung über die aktuelle jüdische Realität in Deutschland wie ein Buch darzustellen, einer frühen Website ähnlich, aber eindeutig ein Buch, ist sicher, darauf kann man bei ihm vertrauen, keine unreflektierte. Es ist ein wichtiges Buch, das hier entsteht, ein Buch mit dem Potenzial, jüdisches Leben in Deutschland neu zu betrachten.

Das Buch hat zwei Teile: Im ersten tritt der Think Tank auf, eine erlesene Gruppe jüdischer deutscher Gesprächspartner*innen, die ihre aktuelle Verfassung beschreiben. Man lernt hier viel über Sorgen, Hoffnungen und gutes Essen. Im zweiten Teil schließen Sebastians künstlerische Konzepte an, seine selbstreflektierte Reise zu den Magdeburger Prozessen gegen die Halle-Attentäter, seine Prozesszeichnungen, seine Gedichte über die Zugreisen, seine unsichtbaren Drachen, die ihn begleiten, in den Thüringer Landschaften und in seiner Raufasertapete zuhause.
Das Erstaunlichste schien mir die Tatsache, dass das formale Konzept funktioniert: Die überkomplexe Collage aus Themen, Ansätzen, beschreibenden Mitteln und Eindrücken fügt sich beim Durcharbeiten schlüssig zusammen. Der Think Tank, durchaus in die formale Nähe zum Halleprozess gestellt, wandelt sich zum Glück nicht zum Gremium aus Kronzeugen gegen das Attentat, sondern bleibt ein offener, kluger Denkraum zum großen Ganzen. Sebastians unsichtbare Drachen, seine Symbole einer abgründigen, latenten Fremdenfeindlichkeit, bleiben in ihrem Auftauchen indifferent und rätselhaft. Seine Erlebnisse geben sich persönlich und ratlos, ohne unangemessene Betroffenheit.

Damit gelingt ein beachtliches Kunststück: Die Verbildlichung einer persönlichen Gefühlslage wird den Erlebnissen des Think Tanks gegenübergestellt, ohne sie zu relativieren. Ein sanftes, ästhetisches Unbehagen blieb mir dennoch bei dem Ganzen: Die Frage, ob das Projektziel schon absehbar war, als die Werke entstanden sind, denn der Weg zur Erkenntnis wirkt sehr geradlinig. Dann bestünde doch die Möglichkeit, dachte ich, dass die Ausstellung eher ein famoses, zeitgeschichtliches Statement ist, kein künstlerisches: Ein mitreißend geschriebenes und illustriertes Buch über das jüdische deutsche Jetzt. Vielleicht darf man diese Trennung aber diesmal auch einfach ignorieren.
WANN: Das Kunstprojekt „Drachen Burgen Juden Hass“ ist online zugänglich, aktuell ist kein Endtermin bekannt.
WO: Im Internet unter drachenburgenjudenhass.de.