Der ziellose Blick
Narrative Räume im Hamburger Bahnhof

20. März 2017 • Text von

Die Ausstellung „Moving in very direction“ im Hamburger Bahnhof zeichnet die fünfzigjährige Geschichte der Installationskunst nach, ohne eine einzige Geschichte zu erzählen. Im Gegenteil: Es öffnen sich narrative Räume, die der Betrachter selbst gestalten kann.

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Bruce Nauman: Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care, 1984 (2010 realisiert). Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 2008 Schenkung der Friedrich Christian Flick Collection | Foto: © bpk / Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Schenkung der Friedrich Christian Flick Collection / Roman März und VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

An der majestätischen Fassade des Hamburger Bahnhofs sind sieben Leuchtstoffröhren installiert; sie tauchen den ganzen Vorplatz des Museums für Gegenwart in kaltes, blaues Neonlicht. Wir befinden uns in dem ersten Environment lange bevor wir ein Ticket für die Ausstellung „Moving in every direction: Environments – Installationen – Narrative Räume“ gekauft haben. Die Strahlkraft der Neonröhren von Dan Flavin ist so stark, dass wir permanente Installation schon von der S-Bahn aus erkennen können. Im Gegensatz zu den immer gleichen rechteckigen Räumen der Rieckhallen, in denen die Mehrzahl der Werke ausgestellt ist, erobert Flavin keinen neutralen Museumraum. Die Umgebung, in der sich das Neonlicht spiegelt, verändert sich fortlaufend. Die formalen Bezüge, die es zu Litfaßsäulen, Taxilichtern und leuchtenden Smartphones hat, sind nur temporär.

Die Kuratorinnen Anna-Cathrina Gebbers und Gabriele Knapstein haben sich für ein Zitat von Gertrude Stein als Auftakt für die Ausstellung entschieden. Diese beschreibt die nicht-lineare Erzählstruktur, die sich als roter Faden durch die kilometerlangen Räume des ehemaligen Bahnhofs zieht, folgendermaßen: „ein Gefühl, dass irgendetwas fortschreitend vor sich geht gibt es gegenwärtig nicht, Bewegung erfolgt in jede Richtung Anfang und Ende ist nicht wirklich erregend.“ Es ist eine große Leistung der Kuratorinnen, dass die nicht-lineare Erzählstruktur sich in einer nicht-linear kuratierten Ausstellung wiederfindet. Der kunsthistorischen Kanon wurde zugunsten von losen thematischen Gruppierungen und dem Freiraum des Betrachters, eigene Bezüge herzustellen und Erfahrungen zu machen, vernachlässigt.

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Edward Kienholz: Volksempfängers, 1975 / 1977. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, 1976 und 1978 erworben durch das Land Berlin. © Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Eigentum des Landes Berlin / Jan Windszus | Estate of Edward Kienholz, 2017.

Eines dieser Themen ist das häusliche Umfeld, ein durch einen Gartenzaun begrenzter Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Der Widerstand gegen einen tradierten Kunstbegriff, welcher letztendlich zur Entstehung der ersten Environments in der Bundesrepublik der 1960er Jahre führte, war auch ein Widerstand gegen Normen und Konventionen der damaligen Gesellschaft. Edward Kienholz schuf Mitte der Siebziger ein Environment mit dem Titel „Volksempfängers“, welches Radiogeräten aus der Zeit des Nationalsozialismus und weitere objets trouvés wie Leitern, Aquarien und Waschbrettern umfasst. Der Betrachter kann die einzelnen Geräte durch Fußpedale aktivieren und erlangt dadurch exemplarisch die Kontrolle über die ehemaligen Propagandamedien Hitlers zurück.
Während das Werk von Kienholz sich als eine auf den Raum erweiterte Skulptur begreifen lässt, ist es das von dem Künstler selbst entwickelte Prinzip der Décollage, das die Arbeit „ELEKTRONISCHER dé-col/age HAPPENING RAUM E.d.H.R.“ von Wolf Vostell dominiert. Blutgetränkte Laken, Fernseher, Gartengeräte und Kühlschränke sind auf dem mit Scherben bedeckten Boden angeordnet. Die Überbleibsel diesen Happenings, welches Vostell während des Vietnamkriegs schuf, drücken so viel Wut aus, dass der Raum sich mit Schreien zu füllen scheint. Im Gegensatz zu dem in der zeitgenössischen Installationskunst oftmals vorherrschenden Eindruck von Anhäufung und Beliebigkeit, sind Widerstand und Zerstörung das zentrale Gefühl der Nachkrieg-Environments.

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Susan Philipsz: War Damaged Musical Instruments (Shellac), 2015. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 2016 erworben durch die Stiftung des Vereins der Freunde der Nationalgalerie für zeitgenössische Kunst | Foto: Jan Windszus © The artist and Konrad Fischer Galerie.

Doch eine nicht-lineare Erzählstruktur muss nicht zwangsweise das Nebeneinander von verschiedenen Narrativen sein, wie es uns in dem Werk von Kienholz oder Vostell begegnet. Dort evoziert die Betrachtung von den Elementen eine Auseinandersetzung mit dem einzelnen Gegenstand und die Installation erscheint als Addition. Nicht-linear ist auch der ziellose Blick, die Betrachtung ohne skulpturalen Gegenstand.
Die britische Künstlern Susan Philipsz liefert ein großartiges Beispiel für den leeren Raum in ihrer Arbeit „War Damaged Musical Instruments“: Von der Decke des White Cubes hängen mehrere alt anmutende Lautsprecher herab, die das militärischen Hornsignal für das Ende der Kampfhandlungen abspielen. Jedem Lautsprecher ist ein im Krieg zerstörtes Instrument zugeordnet, die Melodie ist fragmentiert und setzt sich in der Bewegung durch den Raum zu einem mit Pathos und Verlust aufgeladenen Sentiment zusammen. Der Blick auf der Suche nach Erklärung und Zugehörigkeit eilt haltlos durch den Raum.

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sa Genzken mit Wolfgang Tillmans: Science Fiction/hier und jetzt zufrieden sein, 2001. © Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Schenkung der Friedrich Christian Flick Collection / Thomas Bruns VG Bild-Kunst, Bonn 2017.

Die zeitgenössischen Positionen, welche die Ausstellung in die Kunst der Gegenwart hineinführen, sind ebenso gut ausgewählt, wie symptomatisch für die Komplexität von Werken, die im digitalen Zeitalter entstanden sind.  Die Gemeinschaftsarbeit von Wolfgang Tillmans und Isa Genzken aus dem Jahr 2001 trägt den amüsant passenden Titel „Science Fiction/ Hier und Jetzt zufrieden sein“. Die großformatige Fotoarbeit von Tillmanns zeigt die lebensgroßen Überbleibsel einer Party, die sich in raumteilenden Spiegelwänden von Genzken wiederholen, zerbrechen und neu zusammensetzen. Besucher jeder Altersgruppe machen Selfies, die Selbstdarstellung von Generation Internet und all denjenigen, die auch dazugehören wollen, ist erschreckend und gleichzeitig bereichernd für die Wirkung des Werkes: Das instagram-taugliche Bild von Tillmans wird räumlich, wiederholt sich im Spiegel und das Spiegelbild des Betrachters wiederholt sich in den Aufnahmen seines eigenen Smartphones.

Der letzte Raum der Ausstellung ist der leere Raum, es ist Bruce Naumans „Room with my soul left out, room who does not care“. Ganz am Ende der Rieckhallen, in dem einzigen nicht renovierten und unbeheizten Raum des Hauses, sind zwei gleichgroße begehbare Kreuze aus einfachem Holz in schwarzer Farbe gezimmert: eines in der Vertikalen, eines in der Horizontalen. Ein Gitter im Boden verhindert, dass wir im Zentrum der Installation in die Tiefe stürzen. Die Einsamkeit des Werkes wird zu einer unmittelbaren Erfahrung unseres Körpers in der schwarzen Leere einer menschengeschaffenen Umwelt. Unser Blick auf die Welt ist nicht linear, denn sie zeigt sich uns nicht als geschlossenes Narrativ.

WANN: Die Ausstellung ist bis zum 17. September 2017, von Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr zu sehen.
WO: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart. Invalidenstraße 50/51, 10557 Berlin. Und online.

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