Der Abdruck eines Menschen
Ed Atkins im Martin-Gropius-Bau

6. Oktober 2017 • Text von

Hunderte Kostüme aus dem Fundus der Deutschen Oper Berlin und deckenhohe Bildschirmwände kontrastieren in der Ausstellung „Old Food“ von Ed Atkins. Im Rahmen der Programmreihe „Immersion“ werden wir mit dem Fehlen des Menschen im Analogen, wie Digitalen konfrontiert.

Installationsansicht: Ed Atkins „Old Food“, 29. September 2017 bis 7. Januar 2018, Martin-Gropius-Bau im Rahmen von Immersion 2017 / Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, Berlin. © Ed Atkins Photo: Mark Blower. Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s Enterprise, New York, Rome and dépendance, Brussels.

Vergangene Woche eröffnete im Martin-Gropius-Bau die Ausstellung „Old Food“ von Ed Atkins. Der 1982 in Großbritannien geborene Künstler ist heute schon als post-internet artist in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangen. Als bedeutungsvolle Präambel wird der Gedanke an verwesendes Essen der Präsentation eines neuen Werkkomplexes des Künstlers in den historischen Räumen vorangestellt. Auf den Hochglanzbildschirmen sind ein weinendes Baby, ein strauchelnder Junge und ein sabbernder Greis zu sehen. Diese von Atkins programmierten, käuflich erwerbbaren Avatare bewegen sich durch unbestimmte, digitale Räume. Der Junge trägt das Gewand eines mittelalterlichen Gauklers, springt durch eine kreisförmige Öffnung in einen White Cube, in dem ein Klavier steht und spielt eine Melodie des Komponisten Jürg Frey. Die Musik zieht sich durch mehrere Ausstellungsräume und verbindet die einzelnen Videos miteinander. In einigen Szenen ist der Bezug zur Massenkultur, zu Game of Thrones und Computerspielen, die im Mittelalter spielen, offensichtlicher als in anderen. Eine emotionale Beziehung zu den Protagonisten von Old Food baut sich nicht auf. Selbst wenn das nackte, weinende Kleinkind sich immer wieder aus den Tiefen der schwarzen Leere des Bildschirms zu dem Betrachter umdreht, bleibt Empathie aus.

Installationsansicht: Ed Atkins „Old Food“, 29. September 2017 bis 7. Januar 2018, Martin-Gropius-Bau im Rahmen von Immersion 2017 / Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, Berlin. © Ed Atkins Photo: Mark Blower. Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s Enterprise, New York, Rome and dépendance, Brussels.

Es ist ein anderes Element des Ausstellungskonzepts, zu dem viele Ausstellungsbesucher eine gefühlsmäßige Reaktion zeigen. Die bis auf die Bildschirmwände leeren Räume wurden mit Kostümen aus dem Fundus der Deutschen Oper Berliner gefüllt. Hunderte von muffigen Gewändern hängen dicht an dicht auf riesigen zweistöckigen Kleiderstangen und füllen die Ausstellungsräume nicht nur durch ihre Objekthaftigkeit, sondern auch mit ihrem assoziativ aufgeladenen Geruch. Während sich beobachten lässt, dass die Blicke des Publikums suchend über die Bildschirme huschen, auf Verständnis und Erkenntnis hoffend, werden die ausrangierten Kostüme neugierig betrachtet und genau inspiziert. Im Gegensatz zu der Bezugslosigkeit der digitalen Andeutungen, die Atkins mit seinen Videos macht, erzählen die Requisiten der Oper von deren Zeiten und evozieren selbst in ihrer leblosen Form, Kleiderbügel neben Kleiderbügel, Phantasmen von Eindeutigkeit, Schönheit und Opulenz.

Installationsansicht: Ed Atkins „Old Food“, 29. September 2017 bis 7. Januar 2018, Martin-Gropius-Bau im Rahmen von Immersion 2017 / Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, Berlin. © Ed Atkins Photo: Mark Blower. Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s Enterprise, New York, Rome and dépendance, Brussels.

„Old Food“ ist das Vergessene, Zurückgelassene, das von seiner nährenden, sinnstiftenden Funktionalität Befreite. Ed Atkins konfrontiert die Ausstellungsbesucher im Martin-Gropius-Bau mit dem doppelten Fehlen des Subjekts. Die Bewohner von Atkins Bildwelten sind weder menschlich, noch dinglich. Ihre Körper, ihre Bewegungen und Gesten imitieren Individualität im vollen Bewusstsein sie nie erreichen zu können. Als Abdruck des Menschen existieren diese künstlichen Avatare zwischen der formalen Präsenz ihres Vorbilds und der offensichtlichen Differenz zu demselben. Ein Kontakt hat stattgefunden, doch mit wem, mit was, mit welchem ursprünglichen Objekt? Das Potential der Doppelbedingung des Abdrucks, der unbedingten Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz, lässt sich auch in den Requisiten von „Old Food“ erkennen: Die Kostüme aus dem Fundus der Deutschen Oper sind ohne die Schauspieler und Sänger, die sie einst getragen haben, nicht vorstellbar. In der darstellenden Kunst bezeichnet man sie als „abgespielt“ – bespielt und zum Leben erweckt sind diese Kleider jetzt der Abdruck eines menschlichen Körpers, der sie für einige Stunden auf der Bühne bewohnte und mit ihrer Hilfe aufgehört hat, er selbst zu sein.

Installationsansicht: Ed Atkins „Old Food“, 29. September 2017 bis 7. Januar 2018, Martin-Gropius-Bau im Rahmen von Immersion 2017 / Berliner Festspiele Martin-Gropius-Bau, Berlin. © Ed Atkins Photo: Mark Blower. Courtesy the artist, Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, Cabinet Gallery, London, Gavin Brown’s Enterprise, New York, Rome and dépendance, Brussels.

Der Abdruck als kunsttheoretische Formel ist eine von vielen möglichen Lesarten der Ausstellung von Ed Atkins. In diesem Kontext zeigt „Old Food“ tatsächlich nie das Echte, sondern immer nur eine weitere Ebene des Seins – wie in den Begleittexten beschrieben. Das Aufzeigen dieser Leerstelle ist kein kulturpessimistischer Schrei, der den Verlust des Individuums im globalen digitalen Raum betrauert und sich in seiner Rückwärtsgewandheit kaum von platten Parolen an Stammtischen unterscheidet – eindimensional und gefällig. Leider bricht Atkins im letzten Ausstellungsraum des Martin Gropius Bau mit dieser Interpretation. Auf zwei Bildschirmen ist dasselbe Video im Loop zu sehen: Eine Menschenmenge läuft auf einer klinisch weißen Ebene auf ein Loch im Boden zu. Der Schwarmlogik folgend stürzt sich einer nach dem anderen in die Tiefe. Die Einfachheit der symbolischen Bedeutung dieser Szene wird lediglich von Kommentaren durchbrochen, die über das Bild gelegt sind und unaufhaltsam von oben nach unten durchlaufen. Das Massengrab im Hintergrund wird immer wieder scharf und unscharf, während die Kommentare nie in den Fokus rücken und somit unleserlich bleiben. Begreift man diese letzte Szene als Ende der Geschichte, die Ed Atkins in „Old Food“ erzählt, ist es leider doch die kulturpessimistische Resignation, die er in der digitalen Welt ohne Horizont erkennt. Damit ist diese Arbeit der schwächste Moment der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau.

WANN: Die Ausstellung ist bis zum 07. Januar 2018, jeweils von Mittwoch bis Montag von 19 bis 19 Uhr, geöffnet.
WO: Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin. Details zu Besuch und Begleitprogramm hier.

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