Das (un)sichtbare Archiv
„I [römisch eins]" in der Haubrok Foundation

23. Dezember 2021 • Text von

„I [römisch eins]“ in der Haubrok Foundation zeigt Konzeptkunst zeitgenössischer Künstler:innen und liefert nicht nur eine Basis für grundlegendste Fragen zur Konzeptkunst, sondern definiert auch scheinbar verstaubte Archive neu. Dabei wird nicht nur der Ausstellungsraum zum Archiv, sondern auch die Arbeiten selbst.

Florence Jung, mathias sander exhibition’s floor plan, 2018

Archive sind eigentlich gar nicht so eingestaubt und langweilig bibliothekarisch, wie man sie sich zunächst vorstellt. Endlos lange, braungraue Regalwände mit betongraufarbenen Ordnern in halbbeleuchteten, staubbgrauen Kellern werden durch die Trendisierung von Archive Fashion abgelöst. Oder vielleicht nicht abgelöst ­– denn die Keller und die verschiedenartigen Dokumente, die sie beherbergen, existieren ja weiterhin – aber mit frischen Farben aufgewertet und neu kontextualisiert. Archive spielen nicht nur im Modebereich oder bei Historiker:innen eine zentrale Rolle, sondern auch in der Kunst. Wobei der Begriff Archiv stetig weit gefasster wird. Spätestens mit dem allumfassenden Aufkommen von Computern und Internet – das wohl größte existierende Archiv – sind Archive keine verstaubten Keller mehr, sondern können praktisch überall stattfinden.  

Auch Kunstsammlungen, die in ihrer Quantität über das Kunstwerk in das eigene Haus hängen hinausgehen, können somit als Archive gelten. In einer Wohnung in einer der Turmbauten am Strausberger Platz kann in der Gruppenausstellung „I [römisch eins]“ der Haubrok Foundation nun erlebt werden wie ein Archiv von zeitgenössischer Kunst heute aussehen kann und wie Kunstsammlungen der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Das Archiv tritt hier in der von Konstantin Haubrok kuratierten Ausstellung aus dem privaten, verschlossenen Raum heraus – die meisten ausgestellten Arbeiten sind Teil seiner persönlichen Sammlung – und wird in einen mehr oder weniger öffentlichen Raum platziert. 

Links: Constantin Thun, „choice“, ohne Datum. Rechts: Constantin Thun „intuition“, ohne Datum

Die Ausstellung, in der von Hermann Henselmann gestalteten Wohnung, beschäftigt sich laut Ausstellungstext mit vielgestellten Fragen der Konzeptkunst: Was bedeutet Materialität und Substanz? Wie definieren wie Autorenschaft? Was bleibt, wenn ein Kunstwerk seine ursprüngliche Form verloren hat? Auch wenn dies Fragen von Konzeptkunst 101 sind, stellt sich „I [römisch ins]“ durch das Zeigen von vorwiegend jungen Konzeptkünstler:innen sowie durch die einzigartige, historisch bedeutende Räumlichkeit heraus. Die Zwei-Raum-Wohnung in dem DDR-Bau im sozialistischen Klassizismus wurde in ihren historischen Originalzustand zurückversetzt und zeigt jetzt unter anderem die Arbeiten „choice“ und „intuition“ von Constantin Thun. Wenn man sich nicht darüber bewusst ist, wie diese Arbeiten aussehen, würden einem diese wohl zunächst auch gar nicht auffallen. 

Die Arbeiten bestehen aus zwei weißen Heizkörperverkleidungen, die jeweils rechts und links neben dem bodentiefen Fenster in einem der Räume angebracht sind. In den anderen Räumen findet man nahezu identische Verkleidungen. Wobei diese nicht nur nahezu identisch sind, sondern formal deckungsgleich sind. Thun, der selbst in dem Gebäudekomplex lebt, hat die originalen Heizkörperverkleidungen von einer Werkstatt replizieren lassen und die Originale mit den Replikaten ausgetauscht. Es stellt sich die Frage, welchem der beiden Heizkörperverkleidungspaare überhaupt der Status eines Originals zugesprochen werden kann. Spricht man von den originalen Kunstwerken oder den originalen Gebrauchsobjekten, auf denen das (vermeintlich) originale Kunstwerk basiert. Und handelt es sich nicht bei Thuns Arbeiten genau so um Gebrauchsobjekte wie bei den nicht replizierten Verkleidungen?  

Daniel Gustav Cramer, „light of the day“, 2021

Während Thuns Arbeiten noch formell greifbar sind, entzieht sich „light of the day“ (2021) von Daniel Gustav Cramer einer zumindest taktil wahrnehmbaren Substanz vollkommen. Das einzige direkt Sichtbare der Arbeit ist eine vierseitige Publikation, platziert auf einem gläsernen Tisch vor einem Fenster, auf dessen ersten Seite der Name der Arbeit sowie eine kurze Erklärung dazu steht, woraus das Werk eigentlich besteht. Cramer erklärt das gesamte natürliche Licht, das die Haubrok Foundation erleuchtet zum Kunstwerk, womit dieses zu einem Archiv wird, das Licht aufbewahrt, wenngleich dies nicht physisch sichtbar ist. 

Eine andere Arbeit in „I [römisch ins]“ hat einen ähnlich archivischen Charakter, ist aber nicht einmal durch eine Publikation oder eine andere materielle Repräsentanz sichtbar. „koi stencil for bandit“ (2021) von Cerith Wyn Evans kann dafür olfaktorisch wahrgenommen werden. Die Arbeit besteht aus dem Duft des Parfüms „Bandit“ von Robert Piguet aus dem Jahr 1944. 

Cerith Wyn Evans, „koi stencil for bandit“, 2021

Bei der Installation wird mithilfe einer Schablone in der Form eines Kois das Parfüm auf eine Wand aufgetragen und entfaltet sich über die Ausstellungsdauer hinweg in der gesamten Wohnung. Auch „koi stencil for bandit“ ist nur erfahrbar, wenn man darüber Bescheid weiß. Denn mit zunehmender Ausstellungsdauer nimmt auch der ursprünglich intensive Geruch des Parfüms ab. Dennoch ist er nie vollkommen weg. Die Wand der 60er-Jahre Wohnung wird in den 2020er-Jahren zum (historischen) Archiv. Kunstkritiker Hal Foster beschreibt Archive als „found yet constructed, factual yet fictive, public yet private” – Attribute, die auch auf die Wohnung und Ausstellung am Strausberger Platz zutreffen. Der Ausstellungsraum zeigt nicht nur zusammengestellte Arbeiten aus einem Archiv, sondern wird auch intrinsisch selbst zum Archiv, dessen Substanzen kontinuierlich hinzugefügt und gespeichert werden. 

WANN: Die Ausstellung „I [römisch eins]“ läuft noch bis Sonntag, den 23. Januar.
WO: Haubrok Foundation, Strausberger Platz 19, 10243 Berlin.

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